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Sie erwarten einen bereits im Foyer des Roxy. Auch im Saal schwirren sie als Projektion über den geschlossenen Vorhang: Fliegen.
Sie sind so klein, dass sie auch blosse Partikel sein könnten. Ihre Bewegungen wirken so zufällig, als handle es sich um eine epidemiologische Visualisierung. Die Fliegen sind Vorgruppe und Einstimmung auf die choreografischen und körperlichen Leistungen von sieben Tänzerinnen und Tänzern. Deren Körper vereinen sich mit den Beamerprojektionen und erzählen «dem Publikum eine Science-Fiction-Geschichte», so steht es zumindest im Programmheft der Performance «Becoming More Than Human».
Diese Überwindung des Menschseins von der Tanzkompanie MIR (Motion in Relation) zeigt, dass man mit Körperbeherrschung, zeitgenössischem Tanz und Breakdance die Evolution vorwegnehmen kann. Hiphop ist anscheinend ein Bindeglied zwischen den Menschen und dem Tierreich – zumindest, wenn die Verbindungen und Gegenüberstellungen von Choreografin Béatrice Goetz inszeniert sind.
Unterlegt ist das scheinbar chaotische Schwirren der Tänzerinnen und Tänzer von Musik, die sich auf dem Grat zwischen Clubnacht und der realen Wildnis bewegt. Mal wähnt man sich im Dschungel, dann wieder im Nordstern. Diese Ortsverschiebungen geschehen genauso stufenlos und schnell, wie sich das Geschehen auf der Bühne von der einen Seite auf die andere verlagert. Manchmal nur weil eine Person ihren Körperschwerpunkt verschiebt.
Es ist eine Darstellung von Chaos, von Entropie. Die Menschen unterscheiden sich von den Fliegen durch Schweisstropfen und andere Erschöpfungssignale. Das Chaos ist körperlich fordernd. Doch «Becoming More Than Human» ist ambitionierter, erzählt mehr als eine Hinwendung zum Chaos: Im zweiten Teil der 70-minütigen Vorstellung teilt sich die Masse der Tanzenden in Individuen. Jeweils eine Person nimmt die Bewegung vom projizierten Grauhörnchen, dem Wolf oder einem Esel auf. Sie sind in einem 1:1-Duell. Die auf den transparenten Vorhang projizierten Tiere scheinen zurückzuweichen oder mit den Menschen zu interagieren.
Die Performer wiederum imitieren nicht bloss die Bewegungen der Tiere, sondern kommentieren sie, meditieren sich zu Tieren. Visuell am beeindruckendsten erlebt man das, als eine der Tänzerinnen mit ihrem Körper den Korpus einer Libelle bildet, während sie mit beiden Armen die auf den Vorhang gestrahlten Flügel schlägt. Die Musik wird in diesem Moment zu einem eindringlichen, industriellen Hämmern.
«Becoming More Than Human» ist rauschhaft und animalisch – oder trifft dieses Adjektiv vielleicht nicht zu? Auch nach der Vorstellung weiss man nicht, welche evolutionären Bewegungen über die Menschwerdung hinausgehen. Aber gerade jetzt, wo das Pandemiegeschehen beunruhigende Züge annimmt, ist «Becoming More Than Human» ein lohnender Bruch mit der Menschenrealität. Tanz, Choreografie und Videokunst sind komplex ineinander verzahnt und erzählen eine Wildnis, die im Menschen ebenso wie in einem Schwarm Fliegen angelegt ist.