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Es gibt den 3er bereits seit 1897, doch erst durch die Verlängerung nach Frankreich erlangte er mediale Aufmerksamkeit. Die «Schweiz am Wochenende» begab sich auf eine Fahrt mit der Tramlinie der extremen Unterschiede.
Pünktlich verlässt der gut gefüllte 3er den Bahnhof Saint-Louis. Die Passagiere sind an diesem Donnerstagmorgen praktisch ausschliesslich Schüler auf dem Weg ans Lycée Jean Mermoz.
Doch den ersten Stopp machen wir vorher, am Place Mermoz – dort, wo Krawalljugendliche regelmässig die grünen Trams attackieren sollen, sodass zwischenzeitlich die Abendfahrten eingestellt werden mussten.
Tatsächlich berichten zwei Anwohnerinnen davon, dass Jugendliche den Platz abends und an Wochenenden «in Beschlag» nehmen würden. «Sie sind respektlos und machen bis spät in die Nacht Lärm mit ihren Motorrädern», sagt eine Mutter, die mit ihrem Sohn in einem der Wohnhäuser lebt. Eine Rentnerin, die seit vierzig Jahren in Saint-Louis wohnt, meidet den Platz am Abend.
Ganz anders sieht das der 17-jährige Lehrling, der ans Lycée geht und gerade eine Freistunde hat. Mit einer Kollegin trinkt er im Café Cap eine «chocolat chaud». «Alles halb so schlimm, den Jugendlichen ist einfach langweilig, aber es ist nicht gefährlich», sagt er. Ob er schon mal weiter gefahren sei mit dem Tram, bis Birsfelden? «Nein, was ist das?»
Die ersten vier Haltestellen des Dreiers, von Saint-Louis Gare bis Saint-Exupéry, es ist eine andere Welt; erstaunlich sauber und modern, weit entfernt vom Banlieue-Siff französischer Grossstädte. Dennoch ist die Schwarzfahrerquote hier mit vier Prozent doppelt so hoch als auf Schweizer Seite.
Aus einem nahezu leeren 3er steigen wir bei der Waldighoferstrasse aus. Wir sind am äussersten Zipfel des Iselin-Quartiers. Es scheint, als habe die Stadtentwicklung diese Gegend bisher nicht auf dem Radar gehabt. Ein wirkliches Quartierleben ist hier nie entstanden, vieles ist städtebauliches Stückwerk, scheint zufällig.
Wer die Burgfelderstrasse runterspaziert, kommt zuerst am Sitz der Scientology vorbei, an der edlen Beiz Matisse, am Felix-Platter-Spital. Vor dem Wohnblock gleich bei der Tramstation Waldighoferstrasse treffen sich drei langjährige Mieter zum morgendlichen Schwatz.
«Ein wirkliches Quartierleben gibt’s hier nicht», sagt Stefan Stalder, der seit 26 Jahren im Wohnblock lebt. Immerhin habe man den Leuten von der Scientology klar machen können, dass sie hier keine Menschen belästigten. Ansonsten seien es vor allem die günstigen Wohnungen, die für die Gegend sprächen.
Stalder bezahlt 1200 Franken für seine Drei-Zimmer-Wohnung. Er hat sich über die Verlängerung der Tramlinie 3 gefreut. Seit das Tram nicht mehr hier wende, bringe ihn das Gequietsche nicht mehr um den Schlaf. Ein anderer Mieter verwirft die Hände: «Ich find diese Tramverlängerungen nicht gut – rausgeworfenes Geld», sagt er.
Im Haus nebenan residiert die Scientology. Wie es um die Verankerung der Sekte im Quartier sei, fragen wir die Frau im Eingangsbereich. Sie sagt, sie verstehe kaum Deutsch und deckt uns stattdessen mit Fragen auf Englisch ein: Was wir von der Scientology halten würden und ob wir interessiert seien, die Idee dahinter besser kennenzulernen. Dafür haben wir keine Zeit.
Einst gab es hier so was wie ein Gemeinschaftsgefühl, aber das sei alles weg, sagt ein Quartierbewohner. Das in die Jahre gekommene Restaurant Michelbach hat noch so etwas wie einen Treffpunkt-Charakter. «Vielleicht», sagt der Passant, «ändert sich das ja mit der grossen Genossenschaftsüberbauung, die auf dieser Brache hinkommen soll», sagt er.
Wir fahren weiter. Der Flexity erreicht die Spitzengeschwindigkeit auf dieser Strecke: 50 km/h. Am Burgfelderplatz steigen wir aus. Hier trifft das Iselin auf das St. Johann, hier steigt das Durchschnittseinkommen, die Sozialhilfequote sinkt, das Quartierleben beginnt.
In der Bäckerei Brot Ziegler am St. Johanns-Ring treffen wir Beatrice Heinimann, die soeben eine Drei-Zimmer-Wohnung an der Wintergasse bezogen hat. 1400 Franken bezahlt sie monatlich, das sei mit ihrer AHV zu stemmen. Und der Kaffee ist auch nicht teuer: 3.80 kostet er hier. Die Angestellte der Bäckerei strahlt, sie bekomme oft zu hören, dass er so günstig sei.
Günstig und gut, sei der Burgfelderplatz, sagt Haldimann. Sie habe alles hier: den Denner, die Bäckerei, Restaurants, die Kantonalbank und eine Apotheke. Und natürlich gibt es hier noch den bekannten Käseladen Wirth an der Colmarerstrasse, der auf Stammkundschaft aus der ganzen Stadt zählen kann.
Unlängst hat Lucas Wirth den Laden von seinem Vater übernommen, der einst für den FCB spielte. Der 33-Jährige sagt, er sei «quasi im Quartier» aufgewachsen, sei ihm immer eng verbunden gewesen. «Man hat das Gefühl», sagt Wirth, «dass es allgemein aufwärtsgeht hier». Der Töffladen nebenan baue gerade aus und der Veloladen Co13 auf der anderen Strassenseite laufe ebenfalls gut.
Wir fahren weiter bis zur Missionsstrasse: Das Tram schiebt sich durch eine graue Häuserschlucht, an deren Ende das Spalentor thront. Mit ihm verändert sich das Stadtbild schlagartig. Die Altstadt ist älter als jede Stadtbildkommission, deshalb sind die einzelnen Häuser in Höhe und Form nicht aufeinander abgestimmt. Mit einem Schlenker vorbei an der Uni und schon sticht man runter auf den Barfüsserplatz.
Am Bankverein steigt der letzte Fahrgast aus, der uns seit Frankreich begleitet: ein junger Mann im dunkelblauen Anzug. Der Name der Haltestelle erinnert an eine Zeit, als Basel noch ein wichtiger Finanzplatz war. Heute wirken die Renaissance-Bauten wie ein Abklatsch des Zürcher Paradeplatzes.
Die Leute tun hier ein bisschen geschäftiger, die Restaurants servieren nach internationalem Vorbild Sushi, Ramennudeln und Burger. Im Nespresso-Shop decken sich die Banker und Anwälte mit Kapseln ein. Am Abend versprüht die Gegend die Lebensfreude einer leeren Gepäckhalle. Höchstens im nahen Irish Pub treffen sich noch ein paar Krawattenträger zu Pint und Premier League.
Der 3er passiert Apotheke um Apotheke, fährt am Aeschenplatz vorbei und verlässt die Innenstadt wieder. Spätestens hier merkt man nichts mehr vom neuen Streckenabschnitt in Frankreich.
Zwischenstopp Hardstrasse: Die St.-Alban-Anlage wird vom Pärkchen stark aufgewertet. Ansonsten? Viel Strassenverkehr. Anonyme Geschäftsbauten und nicht weniger anonyme Wohnblöcke, dem Place Mermoz nicht unähnlich. Der Ort lädt kaum zum Verweilen ein.
Wir erkunden die Seitenstrassen, wo sich gleich ein ganz anderes Bild ergibt: ruhige Trottoirs mit Bäumen und Vorgärten. Eine bunte Mischung aus adretten Reiheneinfamilienhäusern, Mehrfamilien- und noch mehr Geschäftshäusern. Menschen sind nur wenige anzutreffen.
Die Namensschilder an den Briefkästen weisen auf einen hohen Schweizer Anteil hin. «Es ist eine gute Mischung hier», erzählt eine ältere Quartierbewohnerin auf dem Weg zum Einkaufen, «eine ruhige Wohngegend».
Die Fahrt geht weiter. Der 3er biegt in Richtung Breite ein, liebevoll als «Bierfläschli-Gellert» verunglimpft. «Auf der linken Seite wohnen die Schweizer, rechts die Ausländer», erzählt eine Kioskverkäuferin. Zum Café trifft man sich bei ihr oder beim Detailhändler.
Der meistbefahrene Autobahn-Abschnitt der Schweiz teilt ausserdem Stadt und Land. Wie zum Trotz gegen den Lärm von Strasse und Schiene hat sich eine kleine Siedlung im Schatten der Schutzwände eingenistet. Hierhin verirrt sich wohl kaum je ein Bauinspektor: Die öffentlichen Trottoirs sind zugestellt mit Blumenkisten der Hüslibesitzer. Stören wird es niemanden.
Das 3er-Tram überquert die Birs, fährt weiter durch Birsfelden: Fischerladen, Nagelstudio, Coiffeursalon. Im Vorbeifahren wirkt alles etwas trist. Die Gemeinde ist von der stark befahrenen Hauptstrasse zweigeteilt. Ein eigentlicher Dorfkern fehlt bis heute. Kein Grund auszusteigen.
Das machen wir dann an der Endstation Birsfelden Hard. Hier endet das Siedlungsgebiet. Direkt hinter der Tramendschlaufe beginnt die Hard. An einem Donnerstagmorgen dümpelt das Leben hier vor sich hin. Ein Rentnerpaar ist am Spazieren, geniesst den Sonnenschein.
Auch im Restaurant Hard ist nichts los. Eine Kuhglocke hängt an der Decke. Blaggedden der Fasnachtsclique «Birsblootere» zieren eine Wand. Ein Frührentner sitzt vor einer Halbliter-Flasche Feldschlösschen. Die Bedienung ist freundlich. Hier scheint man sich über jeden einzelnen Gast zu freuen.
Basel ist weit weg. Saint-Louis am anderen Ende der Welt.