Analyse zur Abstimmung
Ein Appenzeller ist elf mal so viel wert wie ein Basler

In der Abstimmung über den Familienartikel haben sich die Kantone durchgesetzt, in denen das Ideal einer idyllischen, ländlichen Schweiz tonangebend ist. Die Realität sieht vielfältiger aus. Die Schweiz muss endlich lernen, sich auch mit ihren grossen Städten zu identifizieren.

Matthias Zehnder
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Die Stimme eines Appenzellers zählte in der Abstimmung über den Familienartikel elfmal mehr als diejenige eines Baslers

Die Stimme eines Appenzellers zählte in der Abstimmung über den Familienartikel elfmal mehr als diejenige eines Baslers

Keystone

Viele Stimmbürger haben am Wochenende symbolisch abgestimmt: Sie haben sich nicht mit dem Aktienrecht beschäftigt, sondern wollten ein Zeichen gegen Abzocker setzen. Gehen wir einmal davon aus, dass sie diese Haltung nicht nur bei der Abzockerinitiative einnahmen, sondern auch bei den anderen Abstimmungen. Wie sähe diese Haltung aus? Das Raumplanungsgesetz lässt sich gut symbolisch lesen: Die Stimmbürger wollten ein Zeichen setzen gegen die Zersiedelung und die Verschandelung der Landschaft. Wie aber steht es mit der Abstimmung über den Familienartikel? Welche Botschaft kommt heraus, wenn wir die Familienabstimmung symbolisch lesen? Wer hat da welches Zeichen gesetzt?

Die Frage nach dem «Wer?» lässt sich rasch beantworten: Es stehen sich die eher ländlich geprägten Deutschschweizer Kantone einerseits und Romandie, Tessin und die eher urban geprägten Deutschschweizer Kantone andererseits gegenüber. Am höchsten war die Zustimmung mit 79,1% Ja-Stimmen im Kanton Genf, gefolgt von den Kantonen Waadt, Jura, Neuenburg, Tessin und - Basel-Stadt. Der Kanton Basel-Stadt hat von allen Deutschschweizer Kantonen den höchsten Ja-Stimmen-Anteil. Am deutlichsten fiel die Ablehnung mit einem Nein-Stimmen-Anteil von 72,9% im Kanton Appenzell-Innerrhoden aus, gefolgt von den Kantonen Uri, Schwyz, Obwalden, Appenzell-Ausserrhoden und Nidwalden. Die Stimmverhältnisse zwischen Genf und Appenzell waren dabei fast reziprok.

Zur Frage nach dem «Was?»: Wenn wir die Abstimmung über den Familienartikel symbolisch lesen, um welche Bilder, um welche Zeichen ist es dabei gegangen? Im Zentrum ging es um das Familienbild. Genau diesem Schweizerischen Familienbild hat das Landesmuseum 2008 eine Ausstellung gewidmet: «Familien – alles bleibt, wie es nie war». Das Landesmuseum hat die Entwicklung der Familie seit 1750 dokumentiert. Interessant dabei: Die Familie als Lebensgemeinschaft von arbeitendem Vater, Mutter und drei Kindern hat es in Wirklichkeit gar nicht lange gegeben. Das Bild ist aber in den Köpfen tief verankert. Diesem Familienbild wollten am Wochenende viele ein Denkmal setzen.

Realität sieht anders aus

Heute ist das Familienbild vielfältiger. Nur ein Drittel aller Familien leben das traditionelle Modell von arbeitendem Vater, Mutter und Kindern. Gerade im städtischen Lebensraum gibt es viele Patchworkfamilien. Dazu kommt, dass aus wirtschaftlichen Gründen viele Frauen arbeiten müssen. In der Westschweiz kommt noch dazu, dass Kleinkinder früher obligatorisch eingeschult werden. Im Kanton Genf etwa beginnt die École Enfantine bereits für die vierjährigen Kinder. Selbstverständlich steht den 0 bis 4-jährigen Kindern eine breite Palette von Tagesstrukturen offen. Das bedeutet: In Genf (und tendenziell auch in Basel) haben die Menschen ein anderes Bild von Familie.

Das Problem ist jetzt, dass die (wirtschaftlich tendenziell schwachen) Landkantone ihr Familienbild den wirtschaftlich starken Städten aufzwingen. Staatspolitisch heikel ist dabei, dass eine Minderheit von 45,7% Stimmenden ihr Familienbild über den Hebel des Ständemehrs der städtischen Mehrheit aufzwingen kann. Das Stimmenverhältnis ist krass: In Appenzell Innerrhoden haben 4647 Menschen die Stimme abgegeben, im Kanton Zürich waren es 401’960 Menschen. Das bedeutet, dass die Stimme eines Appenzellers 86 (!) mal mehr zählt als die Stimme eines Zürchers und etwa elf mal so viel wie die Stimme eines Baslers.

Wie weiter? Die Schweiz muss dringend Abschied nehmen vom Selbstbild einer idyllischen, ländlichen Schweiz. Nicht dass diese Schweiz nicht schön wäre. Aber sie entspricht für eine Mehrheit nicht mehr der Realität. Wenn es um Abstimmungen geht, sollten wir nicht am Idealbild, sondern an der Realität Mass nehmen. Unser Land muss endlich damit beginnen, sich mit seinen Städten zu identifizieren. Mit Genf, mit Zürich – und mit Basel.