Neues Roche-Zentrum: Eine Forschungsanstalt für Tierversuche, in der Gefühle keinen Platz haben

Die Roche nimmt ihr neues Tierversuchszentrum in Basel in Betrieb. An über 10'000 Tieren könnte darin experimentiert werden.

Silvana Schreier
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Eine Maus in einem Labor für Tierversuche in Bar Harbor, USA

Eine Maus in einem Labor für Tierversuche in Bar Harbor, USA

Robert F. Bukaty

22 Grad warm, eine Luftfeuchtigkeit von rund 55 Prozent, das Licht ist auf Tagesanbruch eingestellt. Futter und Wasser stehen bereit, die Holzspäne sind frisch. Jede Maus lebt mit Artgenossen in einer «Schuhbox». So nennt Tierarzt Tobias Schnitzer die kleinen Plastikkäfige. Er meint dies keineswegs despektierlich, sondern vielmehr pragmatisch beschreibend. Schliesslich sind die Boxen kaum grösser als eine Schuhschachtel und werden in einem Metallgestell übereinander gestapelt.

Damit sich die Nager wohlfühlen, wird die Raumtemperatur gesteuert – 22 Grad mögen die Mäuse am liebsten, sagt Schnitzer. Zudem können die Tierpfleger und Tierpflegerinnen Musik abspielen, die Luftzufuhr oder das Licht justieren, um ihren Schützlingen die bestmögliche, wenn gleich auch ungemein sterile und emotionslose Umgebung zu bieten.

Dr. Tobias Schnitzer, Tierarzt und Chef der Abteilungen Pharmakologie und Toxikologie bei der Roche «Es ist wahrscheinlich das modernste Forschungszentrum der Welt. Wir haben Grenzen verschoben, um das Feld der Tierversuche voranzubringen.»

Dr. Tobias Schnitzer, Tierarzt und Chef der Abteilungen Pharmakologie und Toxikologie bei der Roche «Es ist wahrscheinlich das modernste Forschungszentrum der Welt. Wir haben Grenzen verschoben, um das Feld der Tierversuche voranzubringen.»

Kenneth Nars

Tobias Schnitzer ist nicht nur Tierarzt, sondern auch Chef der Abteilungen Pharmakologie und Toxikologie bei der Roche. Die Mäuse in den «Schuhboxen» sind keine putzigen Haustiere, sondern Versuchstiere für die Erprobung verschiedener Medikamente und Stoffe, die von der Roche erforscht werden. Und das Gebäude, in dem sie leben, in dem experimentiert werden soll, ist noch leer. Denn der Bau 98 auf dem Roche-Gelände neben den beiden Türmen ist erst seit wenigen Wochen fertig. Bis Ende Jahr soll der Umzug fertiggestellt sein.

Helligkeit und Tageslicht prägen den Bau

245 Millionen Franken liess sich die Roche den Neubau kosten. Schnitzer sagt: «Es ist wahrscheinlich das modernste Forschungszentrum der Welt. Wir haben Grenzen verschoben, um das Feld der Tierversuche voranzubringen.» Vertreter grosser Firmen aus diesem Bereich hätten den Bau 98 bereits besucht und sich davon inspirieren lassen wollen. Mit dem neuen Zentrum beendet die Roche zudem die Versuche an Primaten in der Schweiz.

Lichtdurchfluteter (geschlossener) Innenhof

Lichtdurchfluteter (geschlossener) Innenhof

Kenneth Nars

Bereits im Eingangsbereich des Neubaus zeigt sich: Helligkeit und Tageslicht prägen den Bau. Fünf zylinderförmigen Aquarien begrüssen die Besucher, ein Eyecatcher. Das Tierthema wird auf spielerische und vertraute Weise eingeführt. Dass wenige Stockwerke entfernt an Mäusen oder Meerschweinchen experimentiert wird, scheint unvorstellbar. Im sechs Stockwerk hohen und vier Etagen tiefen Gebäude wurde nichts dem Zufall überlassen.

Bis zu 130 Mitarbeitende

Der Bau 98 soll für Mitarbeitende und Tiere geeignet sein. Erdgeschoss und das Stockwerk darüber sind für Forschungsarbeiten am Schreibtisch gedacht. Die oberen vier Etagen sind für Tierhaltung und Laborarbeiten reserviert. 7000 Mäuse, 1500 Ratten, 1500 Zebrafische, 100 Meerschweinchen und 20 Kaninchen finden bei voller Auslastung Platz.

Dazu kommen bis zu 130 Mitarbeitende. Hier erforschen sie etwa Heilmittel für Alzheimer, Parkinson oder Multiple Sklerose oder Antibiotika-Resistenzen. Die Medikamente, die den Tieren verabreicht werden, stehen laut Schnitzer kurz vor der Testung am Menschen.

Komplett sterile Umgebung für die Versuchstiere

Die Stockwerke mit insgesamt 136 flexiblen Raummodulen sind in drei Zonen eingeteilt: Zur Allgemeinzone gehören Büros und Sitzungszimmer, die Hygieneumgebung umfasst Käfigaufbereitung, Lagerräume sowie Tierarztstation. Zuletzt gibt es eine Barrierezone, in der die Hygiene für Mensch und Tier strikt eingehalten werden muss.

Versuchs- und Tierhaltungsräume dürfen nur mit Zugangs-berechtigung und in spezieller Kleidung aufgesucht werden. Über verschiedene Schleusen können Forschende zwischen den Zonen wechseln. Dies gilt auch für die Tiere und Gegenstände, die für Laborarbeiten gebraucht werden. In den sogenannten Luftduschen werden Staub, Schmutz oder Fasern von Körper und Kleidung geblasen.

Die Labors sind mit einer speziell entwickelten roten Folie verklebt

Die Labors sind mit einer speziell entwickelten roten Folie verklebt

Kenneth Nars

Die Räume in der Barrierezone sind komplett steril. Neben einer Türe warnt ein Aufkleber: «Pest Control Monitoring». Schnitzer erklärt: «Der Hygienestandard hier drinnen ist sehr hoch, weil wir grosse Angst haben, irgendwelche Erreger zu den Tieren reinzubringen.» Dazu gehöre auch die Kontrolle von Wildtieren oder Insekten. Motten- und Fliegenfallen zieren die Wände.

Sie surren und locken die Sechsbeiner mit blauem Licht an. Die Angst der Forschenden gilt einerseits den Forschungsarbeiten. Keime und Bakterien könnten die Ergebnisse verfälschen. Noch höher werde aber das Wohl der Versuchstiere gewichtet, sagt Schnitzer, während er den Besuch durch die langen Gänge führt.

Es wird nichts dem Zufall überlassen

Ein Blick in den Raum, in dem künftig Kaninchen gehalten werden, zeigt: Die Roche überlässt auch hier nichts dem Zufall. Die Tiere leben in Metallkäfigen, die übereinandergestapelt sind. Sie können sich unter einer Metallplatte verkriechen oder hoch klettern. Eine dunkelrote Folie an den Glasfenstern und -türen schützt die Kaninchen vor dem Tageslicht. Im angrenzenden Raum stehen Operationstische und Sezierwerkzeug parat.

So steril die Räume sind, so emotionslos wird die Tierhaltung beschrieben. «Unsere Tiere haben hier besser kontrollierte Bedingungen als in 98 Prozent der Privathaushalte», sagt Schnitzer Ganz zu schweigen von der Landwirtschaft. Zudem würden Tierversuchsbetriebe in unregelmässigen Abständen und unangekündigt vom Veterinäramt kontrolliert.

Verstösse bringen Branche in Verruf

So geschehen im Falle eines Tierversuchslabors der Universität Basel: Die Kontrolleure stellten bei zwei Mäusen eine nicht vorschriftsgemässe Behandlung fest. Der verantwortliche Arzt musste sich vergangene Woche wegen des Vorwurfs der Tierquälerei vor dem Basler Strafgericht verantworten (wir berichteten). Das Gericht stellte einen mehrfachen Verstoss gegen das Tierschutzgesetz fest, Tierquälerei soll nicht vorgelegen haben.

Die Fischaquarien im Eingangsbereich

Die Fischaquarien im Eingangsbereich

Kenneth Nars

Für Schnitzer und sein Team sind solche Vorfälle «ärgerlich»: «Sie bringen die gesamte Branche in Verruf.» Bilder von verletzten Tieren in Käfigen oder von an Stühlen festgeschnallten Primaten verbreiten sich rasant. «Ich arbeite seit 1997 in diesem Bereich und solche Bilder kann man einfach nicht wegdiskutieren.»

Das neue Tierversuchszentrum der Roche soll auch dazu dienen, dem schlechten Image entgegenzuwirken. Nicht umsonst erscheine das Gebäude durch die Fensterfronten «transparent». Weiter seien sämtliche Tierpflegerinnen und Tierpfleger spezifisch für die Versuchs-tierhaltung ausgebildet. «Das Tierwohl muss lückenlos garantiert sein», so Schnitzer.

In einem Monat ziehen die Mäuse, Ratten und Zebrafische ein

Während die Arbeiten in den Labors und mit den Tieren über dem Erdboden analog stattfinden, gehören die Stockwerke unter der Erde den Robotern. Ein riesiger, an der Decke angebrachter oranger Roboterarm leert die verschmutzten Käfige aus, schickt sie in die Reinigung. Ein anderer befüllt die neuen «Schuhboxen» mit frischer Streu, schüttelt sie sorgfältig, um die Späne gleichmässig zu verteilen.

Viele Transporte im äusseren Bereich laufen automatisiert mit Robotern ab, hier werden sie gereinigt

Viele Transporte im äusseren Bereich laufen automatisiert mit Robotern ab, hier werden sie gereinigt

Kenneth Nars

Boxen und Deckel werden in Metallgestelle geladen, ein fahrender Roboter übernimmt die Distribution. Die unsichtbaren Magnetschienen unter dem Boden zeigen ihm den Weg zum Lift, von wo er die Behälter ohne Eingriff eines Menschen zu den Labors und Tierhaltungsräumen liefert. Für Zufälle gibt es hier keinen Raum.

Die Mäuse, Ratten, Zebrafische, Meerschweinchen und Kaninchen ziehen Anfang Oktober in den Bau 98. Sie kommen von «ein paar handverlesenen» Züchtern, die sich auf Versuchstiere spezialisiert haben. «Wir können bei der Bestellung genau angeben, welche Art von Tier wir brauchen. Es gibt nichts, was nicht reguliert ist», sagt Schnitzer.

Von einigen Versuchstieren würden die Forschenden nur ein Organ brauchen. «Andere bleiben für ihre gesamte, normale Lebensdauer hier.» Bei Mäusen entspricht das einem Zeitraum von rund zwei Jahren. Schnitzer: «Gerade für die Alzheimer-Forschung brauchen wir diese Methusalem-Mäuse.»

Nachgefragt: «Nur weil der Stall sauber ist, sind das noch keine guten Bedingungen»

Der Schweizer Tierschutz STS engagiert sich seit Jahren für den Ersatz und die Reduktion der Tierversuche. Julika Fitzi leitet die Fachstelle Tierversuche des Verbands. Dieser will eine Forschung, die Würde und Rechte der Versuchstiere ernst nimmt. Stattdessen sollen alternative Methoden vorangetrieben und entwickelt werden.

Fitzi vertritt den Schweizer Tierschutz STS bei regelmässigen Gesprächen mit Interpharma, dem Schweizer Verband der forschenden Pharmafirmen. Das neue Tierversuchszentrum der Roche in Basel wurde innerhalb des Dialogs allerdings nicht thematisiert und war der St. Galler Tierärztin nicht bekannt.

Die Roche hat für 245 Millionen Franken das neue Tierversuchszentrum für den Konzern gebaut. Ist dieses Geld gut eingesetzt?

Julika Fitzi: Schön wäre, wenn die Roche die Hälfte des Betrags in die Erforschung und den Einsatz von Alternativen zu Tierversuchen investieren würde. Zum Vergleich: Die staatliche Förderung dafür beträgt drei Millionen Franken. Dieses Verhältnis zu den 245 Millionen Franken ist doch drastisch. Dabei hofft doch die gesamte Gesellschaft darauf, dass man wegkommt von den Tierversuchen.

Die Zahlen des Bundes zeigen einen Rückgang: Seit vier Jahren werden stetig weniger Versuche an Tieren durchgeführt. Das ist doch ein positiver Trend?

Diese Zahlen muss man mit grosser Vorsicht interpretieren. In den beiden Basel etwa stiegen die Zahlen im vergangenen Jahr um neun Prozent an. Tatsächlich gibt es weniger Tierversuche in der Schweiz, dafür lagern etliche Firmen die Experimente ins Ausland aus, da die Tierschutzgesetze in der Schweiz strenger und die Kosten höher sind. Und es werden immer mehr Versuche, die eine schwere Belastung für die Tiere darstellen, durchgeführt. Dazu gehört etwa die Krebsforschung.

Laut der Roche sind Tierversuche für die Erforschung gewisser Krankheiten und die Zulassung von Medikamenten unerlässlich.

Ja, teilweise sind sie tatsächlich nötig. Aber dieser Anteil beträgt zwischen zehn und fünfzehn Prozent. Der Rest der Versuche wird von den Forschenden freiwillig gemacht, um mit Tiermodellen Zusammenhänge der menschlichen Gesundheit zu erforschen und um des Forschens Willen. Der Nutzen für den Menschen bleibt aber vielfach geschuldet.

Das Pharmaunternehmen beruft sich auf die Devise: «So wenige Tierversuche wie nötig, so gute Bedingungen wie möglich». Sehen Sie das so gegeben?

Die Forschung der Pharmafirmen, dazu gehört auch die Roche, ist eine Blackbox. Wir haben nur die Zahlen des Bundes. Daraus Schlüsse zu ziehen, was wirklich mit den Tieren gemacht wird und ob die Versuche in den einzelnen Fälle nötig waren, ist unmöglich. Das Motto klingt schön, aber wir vom Tierschutz können leider nicht hinter die Labortüren blicken und daher nicht beurteilen, ob das stimmt.

Im neuen Forschungszentrum ist die gesamte Betreuung und Umgebung der Versuchstiere durchreguliert. Tierpfleger kümmern sich um das Wohl der Tiere. Das sind doch gute Bedingungen, oder?

Zuerst einmal: Dass alles automatisiert und reguliert ist, entspricht lediglich primär den Vorschriften. Die Roche ist hier nicht besonders innovativ oder fortschrittlich, sondern hält sich einfach an die Gesetze. Durch die Automatisierung aller Abläufe werden die Tiere sehr steril gehalten. Nur weil ihr Stall stets sauber ist, sie genug Futter und Wasser haben und ein Tierpfleger ein Mal pro Tag kontrolliert, ob sie noch leben, sind das noch lange keine guten Bedingungen. Etliche Studien haben gezeigt, dass die Ergebnisse von Experimenten und das Tierwohl besser sind, je mehr Abwechslung und Beschäftigung die Tiere bekommen. Zudem können Resultate, die in einer komplett sterilen Umgebung erzielt wurden, nur bedingt auf den Menschen übertragen werden. Wir leben schliesslich nicht in einem sterilen Käfig, wenn bei uns Krankheiten entstehen und wir therapiert werden.

Laut Tobias Schnitzer, Leiter des Tierversuchszentrums der Roche, geht es den Versuchstieren aber besser als in 98 Prozent der Privathaushalten.

Da muss ich widersprechen. Für Mäuse, Ratten und Kaninchen haben wir in der Heimtierhaltungen höhere Anforderungen. So müssen Mäuse dort knabbern, klettern, sich vergraben können und mindestens zu zweit gehalten werden. Die Tiere in den Versuchszentren leiden darunter, dass sie nicht artgerecht leben können, und oftmals alleine im Käfig sind. Die Ratten und Kaninchen sind überzüchtet und dadurch so gross, dass sie sich in ihrer Box lediglich um sich selbst drehen können. Der einzig positive Punkt an der Versuchstierhaltung ist, dass sie mindestens ein Mal jährlich durch das Veterinäramt kontrolliert wird. Das gibt es bei der Heimtierhaltung nicht.