Plötzlich ist im Bauch angekommen, was der Kopf schon lange weiss: Nichts ist selbstverständlich. Was in Europa erschaffen wurde, kann innert kürzester Zeit angegriffen werden.
Eigentlich ist meine Aufgabenstellung in dieser Kolumne klar: Über lokal Relevantes soll ich schreiben aus einer persönlichen, jungen Perspektive. Aber so sehr ich auch über die Regierungsratswahlen oder über die Baselbieter Fasnacht schreiben möchte, es geht gerade einfach nicht, trotz meiner Liebe zu Fastenwähe und Guggenmusik.
Stattdessen kann ich nicht umhin, dem Ausdruck zu verleihen, was mich in den letzten Tagen so beschäftigt. Meine Welt wurde erschüttert. Ich, 1996 geboren, bin in einer Gewissheit gross geworden: In Europa herrscht Frieden.
Klar, meine Grosseltern erzählten vom Krieg vor der Schweizer Haustüre, von der eindrücklichen Anbauschlacht oder vom Wachestehen an der Grenze. Klar, meine Eltern impften uns den Fall der Berliner Mauer ein und die Folgen für das Leben in Europa und das Verhältnis zur ehemaligen Sowjetunion. Klar, der Geschichtsunterricht lehrte unsere Generation die kriegerischen Auseinandersetzungen des letzten Jahrhunderts.
Aber trotz aller Fakten und Erzählungen obsiegte ein seit meiner frühen Kindheit vorherrschendes Sicherheitsgefühl. Zwar wäre ich nie auf die Idee gekommen, mich für die Abschaffung der Armee einzusetzen. Ehrlicherweise muss ich aber sagen, dass die Vorstellung einer militärischen Bedrohung der Schweiz derart abstrakt war, dass sie das grundlegende Gefühl von Geborgenheit und Optimismus nicht beeinträchtigte.
Letzte Woche hat sich das unwiderruflich geändert. Europa ist plötzlich in einen Angriffskrieg verwickelt. Die sichere Blase meiner Generation ist geplatzt, und zum ersten Mal in meinem Leben werden wir damit konfrontiert, dass eine Atommacht den Einsatz von Nuklearwaffen in Europa als Option auf den Tisch legt. Etwas, was seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der darauffolgenden Abrüstung undenkbar schien.
Plötzlich ist im Bauch angekommen, was der Kopf schon lange weiss: Nichts ist selbstverständlich. Was in Europa erschaffen wurde, kann innert kürzester Zeit angegriffen werden. Wir haben viel zu verlieren, und wir müssen dafür sorgen, dass unsere Generation nicht die ist, die den Untergang jenes Europas, wie wir es kennen, miterlebt.
Umso unverständlicher sind Aussagen, welche die Verantwortung für den Krieg auf den Westen schieben. Oder sie als logische Konsequenz «linksliberaler» Politik darstellen. Solche Aussagen übernehmen die Propaganda Russlands von der «Verweichlichung» des Westens und lenken von den Auswirkungen und der Unerhörtheit Putins ab. Kritik an der westlichen Politik kann nie Rechtfertigung für einen Krieg gegen ein unschuldiges Volk sein.
Wer sich zur Freiheit bekennt, kann nicht anders, als Stellung zu beziehen gegen den russischen Aggressor. Freiheit, Demokratie und Wohlstand sind plötzlich keine gottgegebenen Regeln mehr, sondern real bedrohte und fragile Errungenschaften. Insbesondere der Wert einer starken Armee wird uns gerade völlig neu bewusst. Gleichzeitig muss die Schweiz aber auch ihre Diplomatie neu ausrichten auf die veränderte Situation.
Diplomatische Bemühungen können in unsicheren Zeiten militärische Eskalationen verhindern und sind darum, auch für die Schweiz, von grösster Wichtigkeit.
Naomi Reichlin studiert Politikwissenschaften in Friedrichshafen und war von 2017 bis 2020 Vizepräsidentin der FDP Baselland.