Die Slawistin Nadine Reinert besuchte mit der bz die von Bettina Oberli inszenierte Basler Version von «Anna Karenina». Ein Gespräch über die Liebe in der russischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und in der Gegenwart.
Nadine Reinert, was bedeutet Ihnen Anna Karenina?
Nadine Reinert: Ich finde Anna Karenina eine unglaublich faszinierende Persönlichkeit. In ihrer Leidenschaft für Alexej Wronskij bringt sie eine grosse Kompromisslosigkeit zutage. Das zeichnet sie für mich aus. An ihren kompromisslosen Gefühlen geht sie aber auch zugrunde.
Nadine Reinert (33) ist Co-Leiterin des Philosophicums im Ackermannshof. Sie studierte Russistik, Slavistik und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Uni Basel. Derzeit bildet sie sich nebenberuflich im Nachdiplomstudium als Kulturmanagerin weiter. (bz)
Und was bedeutet Ihnen der Roman als Ganzes?
«Anna Karenina» ist einer der bedeutendsten Romane der Weltliteratur. Ein Roman, den man nie fertiggelesen hat – ich habe ihn jetzt zum dritten Mal gelesen und wieder Neues darin gefunden. Der Spannungsbogen bleibt trotz der Länge stets hoch, die Geschichten und Figuren wirken unmittelbar und echt. Dazu trägt die Technik des Inneren Monologs bei, die Tolstoj vor James Joyce verwendet hat. Tolstoj lässt die Leser am Bewusstseinsstrom der Figuren teilhaben. Bevor Karenina sich vor den Zug wirft, beispielsweise, fährt sie durch die ganze Stadt – und wir bewegen uns mit ihr mit und erfahren alles, was ihr durch den Kopf geht.
Im Buch geht es auch stark um die russische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Was hat uns dieser Roman heute noch zu sagen?
Der Roman ist ein Spiegel dieser Gesellschaft und diskutiert viele Fragen, die nicht mehr aktuell sind: Moralvorstellungen, die damalige Rolle der Frau, die Situation der Bauern. Aber die Charaktere, gerade die Figur der Karenina, sind zeitlos; es geht um grosse, tiefe menschliche Gefühle.
Gibt es diese Gefühle noch?
Im Programmheft schreibt die Soziologin Eva Illouz, dass die moderne Liebe stark rationalisiert worden ist. Das hat etwas. Die Liebe ist handhabbar geworden, ihr Absolutheitsanspruch verloren gegangen. Man ist selten bereit, sich einem Menschen so komplett hinzugeben. Wir wollen gern alles im Griff behalten. Die Liebe wird tendenziell bagatellisiert. Für Anna Karenina aber ist die Liebe ernst und total. Ihre Rückhaltlosigkeit treibt sie in den Wahnsinn.
Aber diese grossen Gefühle zu zeigen, das hat sich diese Inszenierung in Basel nicht getraut. Da ist kein Feuer, da ist Kälte.
Die Gefühle werden im Stück stark zurückgebunden gezeigt. Das hat wahrscheinlich genau damit zu tun, dass wir heute abgeklärter sind und die Liebe von Anfang an als vergänglich anschauen. Die grosse romantische Liebe wird heutzutage fast ein wenig belächelt. Die Schauspieler sprechen zudem immer wieder in der dritten Person von sich, das schafft noch mehr Distanz. Vor allem im ersten Teil hatte ich Mühe, mich mit diesen Figuren zu verbinden. Auch ihre innere Entwicklung ist nicht nachvollziehbar.
In Bettina Oberlis Inszenierung schauen sich Anna Karenina und Graf Wronskij bei ihrer ersten Begegnung kaum an. Ist es nicht schade, dass dieser Roman über grosse Gefühle schlechthin derart abgeklärt inszeniert wird?
Ja, ich finde das schade. Gerade das Theater wäre der Ort, an dem man diese Gefühle zeigen könnte. Im Roman wird Anna Karenina zu Beginn als warme, zärtliche, lebensfrohe, offene Frau beschrieben. Sie ist das Gegenteil einer Lügnerin und «Ehebrecherin», dafür ist sie überhaupt nicht gemacht. Die Hauptdarstellerin im Stück dagegen könnte ich mir eher in einer Rolle als Femme fatale vorstellen.
Tolstoj beschreibt – in Kontrast zur Amour fou zwischen Wronskij und Karenina – die sich entwickelnde Liebe Kittys zu Lewin. Für welche Figur schlug Tolstojs Herz?
Tolstoj versucht, verschiedene Lebensentwürfe aufzuzeigen. Lewin ist ihm am nächsten – in seinem Namen ist auch Tolstojs Vorname «Lev» enthalten. Der Leidenschaftlichkeit, die Anna Karenina verkörpert, stand Tolstoj dagegen sehr kritisch gegenüber. Gleichzeitig hat er mit dem Roman dieser Leidenschaft aber eines der schönsten Denkmäler gesetzt. Er hat diese Frau auch mit viel Sympathie geschrieben. Lewin und Karenina kontrastieren sich zwar, doch beide stehen in einem ambivalenten Verhältnis zur Gesellschaft. Lewin findet nach langem Suchen und Reflektieren seinen Platz, Anna Karenina hingegen bewegt sich immer weiter an den Rand der Gesellschaft. Das wird in der Basler Inszenierung schön gezeigt.
Im Roman werden auf rund 1200 Seiten die Charaktere und ihre Motivationen sorgfältig entwickelt. Am Theater Basel wird der Roman in zwei Stunden durchgespielt. Funktioniert das?
Wenn so grosse Romane für die Bühne umgeschrieben werden, geht das natürlich nie, ohne dass vieles ausgelassen werden muss. Jede Kürzung ist immer auch eine Interpretation. In der in Basel verwendeten Textfassung von Armin Petras kommen erfundene Dialoge hinzu. Als Zuschauer darf man nicht die Wiedergabe des Romans erwarten, sondern muss sich auf etwas Neues einlassen, das aber die Grundzüge des Originals aufzunehmen versucht.
Aber halten Sie diese Inszenierung für gelungen?
Ich habe sie stark vom Roman her angeschaut, vieles hat mich zwangsläufig enttäuscht – mir fehlt zum Beispiel die ganz zentrale Pferderennen-Szene. Aber ich anerkenne, dass dieses Stück dafür andere Qualitäten hat. Das Bühnenbild ist sehr geschickt eingesetzt worden. Um zu zeigen, wie sich die Liebenden allmählich von der Gesellschaft abspalten, wird der Bühnenboden allmählich zur ausgrenzenden Wand.
Die Schauspieler verwenden moderne Alltagsdialoge. Wörter wie Kino fallen. Karenina sagt nach ihrem ersten Flirt mit Wronskij: «Die Pferde sind mit mir durchgegangen.» Halten Sie solche Dialoge für schockierend platt oder für ein probates Mittel, um den Roman zeitgemäss rüberzubringen?
Ich habe vor ein paar Tagen in Berlin eine Inszenierung von Frank Castorf gesehen, Tschechows «Duell». Im Vergleich zu Castorfs postmodernem Wirbelspiel, bei dem man wirklich nicht mehr weiss, was das eigentlich noch mit dem Original zu tun hat, war diese Karenina-Inszenierung noch sehr nah am Original.
Aber wenn der Text schon verfremdet wird, dann nicht lieber richtig?
Vielleicht. Aber für den Zuschauer wird es dann noch schwieriger, das Geschehen zu verstehen.
Wie fanden Sie Kutti MC als sprechsingenden Kommentator?
Er spielt den Diener aus der Schweiz, eine neu erfundene Figur. Witzigerweise stammt im Russischen das Wort für Portier oder Wächter (Švejcar) vom Wort Schweizer (Švejcarec) ab. Kutti MC hat die Funktion des antiken Chors, der das Geschehen auf der Bühne kommentiert. Er hätte gern akustisch etwas deutlicher und inhaltlich prägnanter sein können.
Wie wichtig ist dieser Roman heute noch für das Slawistik-Studium?
Er ist absolut zentral. Die Kenntnis des Romans ist eine Grundvoraussetzung, um auch die neue russische Literatur zu verstehen. Und als Forschungsgegenstand ist der Roman unerschöpflich.