Zum Leben und Schicksal des Basler «Art-Brut»-Künstlers Peter Wirz hat sein Neffe eine Monografie geschrieben.
Es sieht nach einer vertrackten Vater-Sohn-Geschichte aus: Während Paul Wirz, der erfolgreiche Basler Ethnologieprofessor und Sammler, Forschungsreisen nach Neuguinea unternahm, hatte es Sohn Peter (1915–2000) nur schwer im Leben. Bereits vor der Geburt soll ihn der Vater, aus einer vermögenden Industriellenfamilie stammend, mit Syphilis angesteckt haben. Klein gewachsen und hilfsbedürftig, wurde Peter von strenggläubigen Tanten zwischen Heimen, Anstalten und Hilfsarbeiterjobs herumgeschoben – er führte ein trauriges Aussenseiterleben.
Was nach seinem Tod nur wenige wussten: Peter Wirz hielt in Hunderten von sorgfältig ausgearbeiteten Farb- und Bleistiftzeichnungen jahrelang alles fest, was ihn bedrängte – Strafe, Gewalt, Krieg, Sexualität und Christentum. Sichtbar werden extreme Bedrohungen an Körper und Seele., etwa durch selbst erfundene Tötungsmaschinen und Folterapparate aller Art. Die Schreckenswelten konnten bei Wirz auch durcheinandergeraten: etwa bei einem Christus am Kreuz, den er mit Brüsten und Röckchen versah. Auch der «Teufel im Konzentrationslager» war bei ihm weiblich.
«Peter war der ‹Freak› der Familie, den man am liebsten verschwieg», sagt Andres Müry, Neffe des Künstlers, im Gespräch. Der 72-jährige Theatermann und Autor hat nun eine persönlich inspirierte, aber sachlich gehaltene Monografie über seinen Onkel herausgegeben, die versucht, ihn zu rehabilitieren und sein Lebenswerk zu würdigen. Der Band zeigt eine Auswahl der rund 700 Zeichnungen, die erhalten sind – alle undatiert und unsigniert, im A4-Format, wenige auf kleinen Zetteln. Einzelne Blätter zeigt derzeit auch die Galerie «Maison 44» in Basel.
Autor Müry hatte den Onkel bereits als Kind kennen gelernt, wenn dieser gelegentlich sonntags am Basler Heuberg zu Besuch kam, «bei jedem Wetter in grüner Militärpelerine». In Erinnerung blieben sein «mächtiger Kopf, blondes, gescheiteltes Haar und ein markant geschnittenes Gesicht» mit dicker Hornbrille. Der Besucher nahm jeweils seine Mappe mit den Zeichnungen und zeigte sie vor – besonders die blutrünstigen Marterszenen hätten die Kinder fasziniert, erzählt Müry.
Jahrzehnte später nahmen er und Peters Halbbruder, der Baselbieter Künstler Dadi Wirz (geboren 1931), den Kontakt zu ihrem verstossenen Verwandten wieder auf. «Mich interessierte er damals als Aussenseiter der Familie», sagt Müry. Der Onkel trat meist mürrisch und abweisend auf, gab sich einmal als selbstbewusster Künstler und fragte ein andermal wieder unsicher: «Wie findest du es? Es ist doch nicht alles wertlos, oder?» Ein grosser Teil des Werks ist wohl verloren: Bei den vielen Umzügen hatten Behörden und Verwandte die Blätter gleich schachtelweise entsorgt.
Während der Vater auf seinen Reisen die «edlen Wilden» in unberührter Natur suchte, bemühte sich der Sohn vergebens um ein normales Leben. Die psychiatrischen Diagnosen, die dieser in der Basler «Friedmatt» erhielt, wie auch die ausbrechende Psychose wollte kaum jemand in der Familie wahrhaben. Ebenso verschwiegen wurde die im Nachhinein unverständliche Kastration des 35-Jährigen wegen Exhibitionismus: Wirz hatte seine Zeichnungen jungen Mädchen gezeigt und auf Velosättel onaniert.
Die fein säuberlich ausgemalten Blätter hat Autodidakt Wirz immer mit kürzeren oder längeren erklärenden Texten in gestochener Schrift versehen. Oft können die komplexen Bilder des Schreckens nur durch regelmässige Muster gebändigt werden: Formen wie Symbolzeichen, Wappen und Uniformen bilden dann einen «heraldisch-decorativen Hintergrund». Als könnte damit angesichts des Chaos in seinem Innern die Ordnung wiederhergestellt werden.
Vergleichbar ist das Werk des Peter Wirz mit jenem anderer Künstler der «Art brut» oder der «Ousider Art» wie Adolf Wölfli oder Louis Soutter, doch entstand es nicht in der Isolation einer Anstalt. «Peter hat sich durchaus mit der Gegenwart und der Realität um ihn herum auseinandergesetzt», sagt Müry. Kriege etwa habe er mit grosser Aufmerksamkeit verfolgt. Erst in den 1970er-Jahren begann der Halbbruder Dadi Wirz, die Blätter zu sammeln und in Ausstellungen unterzubringen, doch ohne grossen Erfolg; derzeit sind einige Originale in der Galerie des «Maison 44» in Basel zu sehen.
Formal wirken die Zeichnungen des Peter Wirz zwar naiv und unbeholfen, aber sie vermitteln in ihrer verstörenden Ästhetik Einsichten in ein massiv bedrohtes Innenleben – in den persönlichen «Kontinent Wirziana». Sein Leben und Werk erlauben nicht zuletzt auch Blicke in das Basler Bürgertum im letzten Jahrhundert – und wie eine ihrer Familien mit einem umging, der einen lebenden Skandal verkörperte.
Andres Müry, "Wirziana. Die andere Welt des Peter Wirz". Vexer Verlag St. Gallen / Berlin 2020.
Zeichnungen von Peter Wirz, Maison 44, Basel. Bis 22.November.