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Ein Physiotherapeut musste sich wegen Ausnutzung einer Notlage verantworten. Die Richter haben ihn nun freigesprochen.
«Es hätte zu diesen sexuellen Handlungen nicht kommen dürfen, das finden auch wir. Es darf nicht sein, dass sich ein Physiotherapeut dermassen mit einer Patientin einlässt», sagte Gerichtspräsidentin Katharina Giovannone am Mittwoch im Basler Strafgericht.
Die Geschichte ist inzwischen drei Jahre her: Eine 64-jährige Frau ging im Sommer 2017 nach einem Oberarmbruch zu einem Basler Physiotherapeuten in Behandlung, über längere Zeit hinweg jeweils zweimal wöchentlich für eine halbe Stunde. Der Umgang war freundlich, driftete aber auch oft ins ausgesprochen Persönliche oder Esoterische ab.
So erzählte der heute 57-Jährige der Frau offenbar von eigenen schamanischen Erlebnissen mit der Tochter eines befreundeten Paares oder betonte die Möglichkeit von Hausbesuchen. Die Versionen der Frau und des Therapeuten gingen teilweise stark auseinander: So schilderte die Frau, er habe einmal einfach seine Hand zwischen ihre Brüste gelegt, während er betonte, er habe bloss ihren Solarplexus berührt.
Die Therapie ging weiter, die Treffen auch: Ende August 2017 trafen sich die beiden abends in der Wohnung der Frau, es kam zu Sex. Beide betonten aber, der jeweils andere sei dabei die treibende Kraft gewesen. Im September kam man sich in der Praxis wieder etwas näher, der Therapeut betonte daraufhin, er habe jetzt ihre Aura gespürt. Später warf ihm die Frau vor, übergriffig zu sein, ging aber weiterhin zur Therapie. In November half sie ihm gar, die Praxis zu putzen, danach kam es erneut zu sexuellen Handlungen. Die Frau brach den Kontakt ab und erstattete ein halbes Jahr später Anzeige gegen den Mann.
Das Gericht fand, man müsse bei Abhängigkeitsverhältnissen beispielsweise zwischen Psychotherapeuten und anderen Medizinalpersonen deutlich unterscheiden: Hier habe es kein Machtgefälle gegeben, die Frau sei dem 57-Jährigen auch bei der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit keineswegs unterlegen gewesen. Der Sex zwischen den beiden habe nach 13 halbstündigen Sitzungen stattgefunden, demnach hätten sie bis dahin rund 6,5 Stunden miteinander verbracht.
«Wie soll da jemand eine erwachsene Frau derart umgarnt haben, dass sie in ihrer Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigt war?», fasste Giovannone die Gedanken des Gerichtes zusammen. Auch sei die Frau nicht einsam gewesen, man könne nicht von einer Notlage sprechen, die ausgenutzt worden sei. Sie habe auch klar gewisse Sexualpraktiken abgelehnt, konnte also durchaus durchsetzen, was sie wollte und was sie nicht wollte.
Die Frau erwartete offenbar eine Beziehung und war enttäuscht. «Mit solchen Patienten muss eine Medizinalperson umgehen können, auch ein Physiotherapeut. Aber er hat sich nicht strafbar gemacht», so Katharina Giovannone. Die Staatsanwaltschaft kann das Urteil ans Appellationsgericht weiterziehen.
In Basel-Stadt handelt es sich bei dem Fall, der gestern am Strafgericht verhandelt wurde, um den zweiten Gerichtsfall in kurzer Zeit, bei dem es um sexuelle Übergriffe eines Physiotherapeuten geht. 2017 wurde der ehemalige Leiter der Physioabteilung der Schmerzklinik wegen Nötigung sowie Schändung zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren und Genugtuungszahlungen von 25000 Franken verurteilt. Der Beschuldigte hatte Berufung eingelegt – kurz vor der Verhandlung vor zwei Wochen zog er seine Berufung zurück, womit er auch das Tätigkeitsverbot von fünf Jahren akzeptiert.
Auch Physiotherapeuten können Opfer sein
In der föderalistischen Schweiz ist es allerdings nicht allzu schwer, als verurteilter Physiotherapeut in einem anderen Kanton die Zelte wieder aufzuschlagen. Für Torge-Nils Eistrup, Präsident des Physioswiss-Regionalverbands beider Basel, ist diese Situation nicht haltbar. Er verlangt ein nationales Register von verurteilten Straftätern. «Es kann nicht sein, dass man sich in einem Kanton strafbar macht und im nächsten Kanton gleich weitermachen kann», sagt er. Physioswiss wird sich auf nationaler Ebene nochmalig sehr zeitnah mit der Thematik auseinandersetzen und dazu Stellung nehmen. Dem Physiotherapieverband sind lediglich Einzelfälle bekannt. Es kann daher nicht von einem systemischen Problem gesprochen werden.
Therapie ist nicht der Ort für Freundschaften
Torge-Nils Eistrup ist sich bewusst, dass das Tätigkeitsfeld den Physiotherapeuten intime Grenzüberschreitungen ermögliche. Wichtig sei beispielsweise, dass Missverständnisse vermieden werden – dass die Behandlungsmethoden genau erklärt würden, ehe sie durchgeführt werden. Gleichzeitig betont Eistrup, der selber als Physiotherapeut arbeitet, dass es auch immer wieder Annäherungen seitens der Patienten gibt. «Immer wieder müssen wir klarstellen, dass die Therapie nicht der Ort ist, um Freundschaften zu knüpfen.»
Leif Simonsen