Care-Migration
Präsenz muss bezahlt werden – Gewerkschaft kündigt Klagewelle an

Nachdem das Gericht einer polnischen Betreuerin Recht gibt und eine private Spitexfirma der Pflegerin Lohnnachzahlungen leisten muss, kündet die Gewerkschaft VOOD eine Klagewelle an.

Annika Bangerter
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Bereits vor zwei Jahren demonstrierte in Basel die VPOD zugunsten der polnischen Spitex-Migrantinnen.

Bereits vor zwei Jahren demonstrierte in Basel die VPOD zugunsten der polnischen Spitex-Migrantinnen.

Martin Töngi

Sieben Tage die Woche und rund um die Uhr verfügbar: So schildert die Gewerkschaft VPOD die Arbeitsrealität von Agata J., einer polnischen Pflegebetreuerin. Dafür bezahlte der Betreuende, ein alter Mann, der privaten Spitexfirma 12 000 Franken. Agata erhielt von der Firma lediglich 3000 Franken Lohn. Als Basis galt die 42-Stunden-Woche. Überstunden und insbesondere die Präsenzzeit von Agata wurden nicht zusätzlich entlöhnt. «Das ist ein Skandal. Private Spitexfirmen machen auf dem Rücken der Betreuerinnen grosse Gewinne», sagt Marianne Meyer, Sekretärin der VPOD Region Basel.

Dagegen hat sich Agata J. vor Gericht gewehrt. Mit Erfolg. Wie die Gewerkschaft am Freitag mitteilte, liegt erstmals ein Urteil zur Entschädigung der 24-Stunden-Betreuung vor. Das Zivilgericht Basel hat entschieden, dass die Arbeit im Privathaushalt bei einer Anstellung durch private Firmen dem Arbeitsgesetz unterstellt sei. Deshalb müssen sämtliche Stunden entlöhnt werden. Auch die Präsenzzeit. «Wenn die Betreuerin schlafen kann, muss ihr nicht derselbe Lohn bezahlt werden, wie wenn sie arbeitet. Aber Agata musste in der Nacht für ihren Klienten bis zu dreimal aufstehen. Das muss im Lohn berücksichtigt werden», sagt Meyer.

Sechs weitere Klagen liegen vor

Das sah auch das Gericht so und sprach der Polin eine Entschädigung für die nächtliche Rufbereitschaft zu. Es setzte dafür einen halben Stundenlohn fest. Deshalb muss Agatas Arbeitgeber ihr rund 17 000 Franken nachzahlen, wie die Gewerkschaft schreibt. «Der Stundenlohn in der Präsenzzeit muss von Fall zu Fall geregelt werden. Das Gericht ging davon aus, dass je grösser die Pflegebedürftigkeit des Klienten und je höher die Frequenz der zusätzlichen Einsätze sind, umso grösser sind die Lohnansprüche», sagt Meyer. Die Gewerkschaft wertet das Urteil des Basler Gerichts als «bahnbrechenden Erfolg» für die Care-Migrantinnen. Und kündigt eine Klagewelle an. Gemäss Marianne Meyer sind sechs Klagen vorbereitet. Wie viele ausländische Pflegerinnen in der Region arbeiten, sei schwer abzuschätzen, sagt die Gewerkschaftssekretärin. Aber: «Mein Eindruck ist, dass die Anzahl zunimmt.»

Verantwortliche fehlt

Aufgrund des Gerichtsurteils hat die bz verschiedene Anbieter von 24-Stunden-Betreuung kontaktiert. Sämtliche Firmen verneinten eine Zusammenarbeit mit Care-Migrantinnen. Eine Nachfrage beim Arbeitgeber von Agata J. ist nicht mehr möglich. Die private Spitexfirma, die Runkel GmbH, ist in der Firma Acura AG aufgegangen. Deren Geschäftsführerin, Tina Sasse, weist die Verantwortung von sich: «Dieser Fall geht uns nichts an. Wir haben die Verträge der Firma Runkel nach der Übernahme angepasst.» Dabei sei den Betreuerinnen monatlich mindestens 5000 Franken Lohn bezahlt worden. Zudem habe Acura den Pflegerinnen einen freien Tag pro Woche und acht Stunden Ruhezeit pro Tag zugesprochen. Seit knapp einem Jahr würde die Firma keine Care-Migrantinnen mehr beschäftigen. Nach eigener Aussage werde die 24-Stunden-Betreuung nur noch in einem Dreischichtbetrieb mit Pflegepersonal aus der Schweiz organisiert.