Stadtgeschichte(n)
«Schüler aller Schulen vereinigt euch»: Als ein Manifest die Lehrer des Realgynmasiums provozierte

Die gesellschaftliche Revolution von 1968 ging auch an der Basler Schülerschaft nicht spurlos vorbei, wie Teil 23 der Basler Stadtgeschichte(n) zeigt.

Antonia Schmidlin*
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Am Realgymnasium (heute Gymnasium Kirschgarten) wurde die Lehrerschaft 1968 von einem Schüler-Manifest provoziert.

Am Realgymnasium (heute Gymnasium Kirschgarten) wurde die Lehrerschaft 1968 von einem Schüler-Manifest provoziert.

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«Mögen die herrschenden Lehrer vor der Revolution zittern. Die Schüler haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Schüler aller Schulen vereinigt euch!!!» Unerhörtes war auf einem Flugblatt zu lesen, das an einer Maturfeier in den späten 1960er-Jahren im Realgymnasium verteilt worden war und den Titel «Manifest des 5. Standes» trug. Ein ironisches Spiel mit dem Kommunistischen Manifest, das hier Pate stand?

Wir kennen weder die Autoren noch die unmittelbare Reaktion auf das «Manifest des 5. Standes». Dass es männliche Jugendliche waren, können wir jedoch mit Sicherheit annehmen, denn das Realgymnasium war damals eine Knabenschule. Das Realgymnasium war 1930 gegründet worden.

Basel hatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einerseits eine Bevölkerungszunahme zu verzeichnen, andererseits führte auch eine gesellschaftliche Veränderung zu einer Zunahme der Gymnasiasten: Nicht nur die Kinder der Eliten, auch Kinder aus «bildungsfernen» Familien entschieden sich vermehrt für eine gymnasiale Ausbildung, um dann ein Universitätsstudium zu absolvieren. In diesem Sinne ist Schule ein Spiegel der gesellschaftlichen Mobilität.

Ein tiefes Unbehagen gegenüber der Gesellschaft

Aber nicht nur das: Schülerinnen und Schüler reagierten auch auf angestaute Zeitprobleme. Die Schweiz hatte den Zweiten Weltkrieg weitgehend unbeschadet überstanden und zelebrierte sich seither gerne als Sonderfall. Aber «1968» erschütterte diese Selbstsicherheit.

Menschen empfanden ein tiefes Unbehagen gegenüber der Wohlstandsgesellschaft. Sie rebellierten, indem sie lange Haare trugen, Rockmusik hörten oder aus der bürgerlichen Familie in neue Wohn- und Lebensgemeinschaften «ausstiegen». Politische Diskussionen drehten sich um Alternativen zur liberalkapitalistischen Wirtschaftsordnung. Die Bezugnahme auf Marx lag daher nahe. Karl Marx gehörte zu den Ikonen der 68er-Bewegung.

Zu den politischen Kampfmitteln der Jugendlichen gehörten Demonstrationen, von Umzügen mit Transparenten und Sprechchören über «Sit-ins» auf Tramgeleisen oder in Amtshäusern bis zu Störungen des Lehrbetriebs in Universitäten und Schulen. Träger der «68er-Bewegung» waren vor allem Studierende und Schüler. Die Schule stellte einen wichtigen Schauplatz der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen dar.

«Herumlungern mit schmuddeliger Kleidung»

Dass die ältere Generation sich durch die Proteste stark angegriffen fühlte, zeigen unter anderem die Reaktionen der Lehrerschaft am Realgymnasium auf das eingangs erwähnte Flugblatt. Ein Lehrer beschrieb die Schüler der 1960er-Jahre so: «Leider zieht der eine oder andere das Herumlungern mit schmuddeliger Kleidung und Neandertalerfrisur in Spielsalon, Kino und Gastgewerbe dem spiessig-fleissigen Versauern in der Studierstube vor. Gymnasiast oder Clochard?»

Und: «Vom Sog der 1968 beginnenden Studentenrevolte erfasst, gab sich der in den höheren Klassen sitzende Durchschnittsschüler der späten 60er-Jahre gelangweilt, gleichgültig und distanziert. Er neigte zur Apathie und Minimalismus. Er war kritisch, stellte alles in Frage und gefiel sich in Disziplinlosigkeiten. Dazu kam die Agitation von aussen; von den Vorgängen an den Hochschulen Frankreichs und Deutschlands aufgeputscht, begannen auch unsere Schüler, Anspruch auf Mitbestimmung (...) zu erheben.»

Das «Manifest des 5. Standes» ist als typisches Dokument der Jugendrebellion im Zuge von «1968» zu verstehen. Die Bezugnahme auf Marx ist bedeutsam: Mit der Bezeichnung «5. Stand» stellte sich die Schülerschaft hinter den «4. Stand», mit dem im 19. Jahrhundert das Industrieproletariat bezeichnet wurde.

Das «Manifest des 5. Standes» kritisierte zudem die eigene Gesellschaft als undemokratisch, es setzte die Lehrpersonen mit der herrschenden Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts gleich und stellte Forderungen, die heute befremdlich wirken können: «Die Schüler wählen ihre Lehrer selbst. Die Schüler erhalten eine angemessene Besoldung. Rektor und Lehrerschaft haben sich strikte an die Weisungen von Schülerräten zu halten.» Man kann sich fragen, ob eine Ironisierung betrieben wurde. Die Reaktionen der Lehrerschaft zeigen, dass das Schülermanifest nicht bloss als Scherz, sondern als Provokation empfunden wurde.

*Antonia Schmidlin ist Historikerin in Basel und Gymnasiallehrerin in Liestal. Die bereits erschienenen Teile der Serie sind nachlesbar unter www.stadtgeschichtebasel.ch