Die beiden Leiter des Philosophicums, Nadine Reinert und Stefan Brotbeck, denken laut über das Denken nach. Können wir besser und Denken, und aus gewohnten Mustern ausbrechen?
Nadine Reinert: Der Vergleich mit Sokrates und der Agora — die ja der Marktplatz ist — gefällt mir gut. Er holt die Philosophie wieder in das Leben hinein. Die Gegenstände der Philosophie sind ja das Leben und die Welt in ihrer alltäglichsten Erscheinung. Dasjenige in Frage stellen zu können, was man für selbstverständlich hinnimmt, halte ich für die stärkste Seite der Philosophie.
Stefan Brotbeck: Platon, der sozusagen Sokrates’ Meisterschüler war, nennt seinen Meister «atopos», das heisst «ortlos». Sokrates ist ortlos, weil er sich keiner gängigen Kategorie zuordnen lässt, den üblichen Rahmen sprengt. Ja, das gefällt mir: Im Idealfall ist das Philosophicum ein Ort für ortloses Denken. Für ein Denken, das Wege geht, die durch Schritte erst entstehen. Ein Ort für schöpferische Geister. Eine Liebeserklärung an ein Denken, das den denkenden Menschen verwandelt.
Brotbeck: Ja, es gibt so etwas wie eine Kultivierung des Denkens – vielleicht ist diese Denkkultur sogar die Wurzel aller Kultur. Im Philosophicum möchten wir mit philosophischen Übungen und anderen Impulsen auf eine solche Denkkultur, eine geistige Bewegungskunst hinweisen.
Reinert: Die grössten Anregungen finde ich in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen — sei das über die Literatur oder im Gespräch. Oftmals möchten wir ja im Disput dem Anderen die eigene Meinung aufdrücken — doch wenn ich davon Abstand nehme, dem Anderen zuhöre und seine Sicht der Dinge zu verstehen versuche, muss ich unweigerlich meine gewohnten Gedankenbahnen verlassen.
Brotbeck: Denkmuster sind Gedanken, die den Denkenden verloren haben. Damit wir etwas Neues denken können, müssen wir also zunächst einmal denken. Denken ist immer aktuell.
Das Philosophicum im Ackermannshof, St. Johanns-Vorstadt 19–21, Basel, feiert heute sein fünfjähriges Bestehen. Von 14 bis 22 Uhr gibt’s Debatten, Lesungen und Musik.
Wir haben aus diesem Anlass mit den Leitern Stefan Brotbeck und Nadine Reinert dieses Gespräch per Email geführt. Zusammen mit dem Philosophicum-Mitwirkenden Christian Graf und Gästen wird das Philosophicum unseren Leserinnen und Lesern zudem fortan 14-täglich in einer neuen Kolumne Denkanstösse aller Art geben. «Philosophicum gibt zu denken» erscheint also jeden zweiten Samstag im Kulturteil der bz.
Reinert: Wir denken nicht in Sparten , wir versuchen vielmehr, die Sparte jenseits der Sparten zu leben, die fruchtbare Reibung von verschiedenen Inhalten und Darstellungsformen zu ermöglichen: Film, Musik, Wort, Bild, etc. Inhaltlich gibt es durchaus rote Fäden: Philosophie und Spiritualität, gesellschaftliche Fragen, die Auseinandersetzung mit dem mittel- und osteuropäischen Kulturraum. Darüber hinaus suchen wir die Verbindung zwischen Kultur und Bildung sowie die vertiefte Auseinandersetzung mit einem Thema.
Brotbeck: Die Philosophie des Philosophicum beruht gerade darauf, dass wir die «Liebe zur Weisheit» (die Philo-Sophia) in einem existenziell und kulturell weiten Sinne verstehen: als immer neuer Versuch, den Menschen «unfertig» zu machen, gegen allen ideologischen Fertigmacher, die eine systematische Entmenschlichung des Menschen betreiben.
Reinert: Seit die Initiativschenkung im Frühjahr 2014 ausgelaufen ist, haben wir jeden Herbst/Winter eine Spendenaktion gestartet. Unser finanzieller Planungshorizont reicht meist nicht weiter als ein paar Monate. Zwar haben wir einen sehr hohen Eigenfinanzierungsgrad — etwas weniger als die Hälfte — doch für den Rest ist das Philosophicum auf Menschen angewiesen, die es mit einem freien Beitrag unterstützen. Wir sind stolz und dankbar, dass sich dafür ein Kreis von Menschen gebildet hat. Doch dieser Kreis darf und muss in Zukunft noch wachsen. Wir brauchen pro Jahr 300 000 Franken. Einen Betrag, den das Philosophicum nicht aus eigenen Kräften erwirtschaften kann.
Reinert: Seit der Übernahme der Leitung für die Druckereihalle leisten wir personell seit Monaten einen Höchsteinsatz, doch ein Ausnahmezustand lässt sich auf Dauer nicht leben. Deshalb wäre unser grösster Wunsch und Ziel, wieder eine längerfristige Perspektive zu erreichen, die uns die nächsten drei Jahre zu überleben hilft.
Brotbeck: Den Themen noch mehr Atemraum geben und die Dinge reifen lassen, bis sie «an der Zeit» sind – auch für unseren Terminkalender. Inhaltlich wollen wir vermehrt soziale Initiativen entwickeln und als Fernziel eine Art Philosophicum-Bildungsjahr anbieten.
Reinert: Um noch einmal mit dem Bild Sokrates’ auf dem Marktplatz zu sprechen: Für das Philosophicum selbst wünsche ich mir, dass wir noch mehr «hinausgehen», zu den Menschen, und aufgreifen, was an Fragen in der Luft liegt.