Glück
Vom Chefsessel ins Lehrerzimmer – Porträt einer Glücks-Expertin

Lucia Miggiano arbeitete jahrelang bei einer Bank, bevor sie ihr Leben radikal änderte. Heute arbeitet sie als Lehrerin und gibt Weiterbildungen zum «Schulfach Glück».

Ayse Turcan
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Eine Tasse Kaffee macht Lucia Miggiano glücklich.

Eine Tasse Kaffee macht Lucia Miggiano glücklich.

bz

Es ist 9.30 Uhr. Lucia Miggiano bestellt an der Bar der «Mitte» einen Cappuccino. Einen passenderen Ort für ein Treffen mit der 58-jährigen kann man sich schwer vorstellen: Eine ehemalige Bank, die zum Kaffeehaus umfunktioniert wurde. Vom Finanzplatz zum Treffpunkt, an dem gelernt, diskutiert, gearbeitet und gelacht wird. An diesem Samstagmorgen ist die Anzahl Personen im Atrium noch überschaubar, doch es haben sich bereits ein paar Familien eingefunden, die Prosecco und Latte Macchiatto für sich und Baby­ccinos und Sirup für die kreischenden Kinder bestellen.

Ihr Lebenslauf klingt wie der Plot eines klischeehaften Hollywood-Films: Lucia Miggiano steigt vom langweiligen Archivjob in die Chefetage einer internationalen Bank auf. Dort verdient sie viel Geld, hat ein luxuriöses Büro, kann sich eine schöne Wohnung leisten und ihre Kinder in eine Privatschule schicken. Plötzlich kommt der Moment der Einsicht und der Bruch mit dem bisherigen Leben: Sie schmeisst ihren Job bei der Bank hin und macht die Ausbildung zur Lehrerin. Nebenbei fängt sie an, sich für das Thema Glück zu interessieren.

Im früheren Direktorenzimmer im ersten Stock der «Mitte» sitzen bereits 15 Personen mittleren Alters auf antiken Holzstühlen im Kreis und warten auf den Beginn des Workshops mit dem Titel «Schulfach Glück». Heute steht das Modul «Entscheiden I» auf dem Programm. Lucia Miggiano organisiert den Workshop, heute leitet ihn aber eine aus Deutschland angereiste Gastreferentin. Diese bittet nun alle Anwesenden, aufzustehen. Zum Aufwärmen werfen sich die im Kreis stehenden Personen Bälle zu und versuchen, sich an die Namen ihrer Gegenüber zu erinnern. Nach und nach kommen immer mehr Bälle ins Spiel. Ab und zu geht einer daneben, die Stimmung ist heiter. Als die Leiterin das Spiel abrupt unterbricht, sieht man überall nur lachende und lächelnde Gesichter, alle sind etwas ausser Atem. Auch Lucia Miggiano hat mitgemacht und lächelt breit, ihre Wangen sind etwas gerötet.

Geld für Bücher, Essen und Schuhe

Lucia Miggiano ist in Rom geboren. Ihr Vater war Wissenschafter, ihre Mutter eine der Gründerinnen der Stiftung ECAP für Erwachsenenbildung. «Wir sind sehr oft umgezogen», antwortet sie auf die Frage, wo sie aufgewachsen sei. Die Familie wohnte in verschiedenen Städten Italiens, zog nach Amerika und landete schliesslich in Basel, als Lucia zwölf Jahre alt war. Während sie erzählt, merkt man Miggiano die internationale Biographie an. Sie spricht zwar Baseldeutsch, lässt aber immer wieder englische Begriffe einfliessen und manche Ausdrücke übernimmt oder ergänzt sie mit etwas Italianità. Etwa ihr persönliches Credo, die im Deutschen geläufige Redewendung «auch nur mit Wasser kochen». Bei Miggiano klingt das so: «Wenn ich das Gefühl habe, das schaffe ich nicht oder das ist eine Nummer zu gross für mich oder ich habe Angst vor etwas – dann mache ich einen Schritt zurück und sage mir: alle kochen Spaghetti mit Wasser.»

Obwohl anfangs nicht so vorgesehen, bleibt Familie Miggiano in der Schweiz, wo Lucia nach der obligatorischen auch die Diplommittelschule abschliesst. «Zum Glück», sagt Miggiano. In der Schweiz sei ihre Familie zu einem gewissen Wohlstand gekommen. «In Italien waren Bücher wichtiger als Schuhe und Essen. Hier in der Schweiz hatten wir Geld für Bücher, Essen und Schuhe.»

Nach dem Abschluss der Schule studiert sie in Venedig und arbeitet in unterschiedlichen Branchen, etwa als Flugbegleiterin oder Sachbearbeiterin, bevor sie einen Job im Archiv einer Bank annimmt. «Ich wollte einen ‹no brainer›, einen gut bezahlten Job, bei dem ich genug Zeit für meine Kinder habe», erklärt Miggiano ihren Einstieg in den Bankensektor. Aus Langeweile beginnt sie, sich für die Dokumente zu interessieren, die sie ablegen soll. Und findet Fehler. Fehler, auf Grund derer die Bank, für die sie arbeitet, Geld verliert. Von da an ist es ein kurzer Weg die Karriereleiter hoch, bevor sich Miggiano plötzlich an einer Verwaltungsratssitzung des Investmentfonds Athena Private Equity wiederfindet.

Eine Weiterbildung zum Schulfach Glück

Zu Beginn ist Lucia Miggiano glücklich bei der Bank. Nach knapp zehn Jahren kommt es zum Bruch. «Eines der Schlüsselerlebnisse, das mich dazu bewogen hat, meine Stelle bei der Bank aufzugeben, hatte ich mit meinem Sohn.» Miggiano erzählt, wie ihr Junge nach Schulschluss in ihr Büro mit Blick auf den Rhein kam, in einem Sessel sass und sie fragte: «Mama, was machst du eigentlich?» Lucia Miggiano schaffte es nicht, ihrem Sohn zu erklären, worin der Sinn ihrer Arbeit bestand. Sie habe sich im Rahmen ihrer Tätigkeiten immer innerhalb des Gesetzes bewegt, sagt die ehemalige Bankerin. Und trotzdem zweifelte sie nach einer Weile an den eigenen beruflichen Tätigkeiten wie Steueroptimierungen und fragwürdigen Investments. Als sie schliesslich aussteigt und nach Weiterbildungen im sozialen Bereich die Ausbildung zur Lehrerin Sekundarstufe I absolviert, bedeutet das nicht nur für sie, sondern für ihre ganze Familie einen Einschnitt – insbesondere einen finanziellen. «Meine Familie hat die Entscheidung mitgetragen», so Miggiano. Hingegen sei es schwierig gewesen, ihren Freunden in Italien zu erklären, wie sie so eine Stelle aufgeben konnte. Es sei ihnen wie der Gipfel der Privilegiertheit vorgekommen.

Während der Ausbildung zur Lehrerin hat Lucia Miggiano begonnen, sich intensiv mit dem Thema Glück zu beschäftigen. Für sie ist Glück weder zufällig noch esoterisch. «Ich bin jemand, der sehr analytisch an Dinge herangeht. Wissenschaftliche Überprüfbarkeit ist mir wichtig», sagt sie. Sie orientiert sich am Glücks-Konzept der US-Amerikanerin Sonya Lyubomirsky. Die Psychologie-Professorin untersuchte in ihrer Forschung eineiige Zwillinge, die unterschiedlich aufwuchsen. Sie kam zum Schluss, dass das subjektive Glücksempfinden zu 50 Prozent genetisch vererbt sei, zu 10 Prozent von den äusseren Umständen wie Bildung, Job oder Einkommen abhänge und zu 40 Prozent selbst beeinflusst werden könne. Dieses Konzept passt für Lucia Miggiano. Das Nachdenken über Glück und die Weiterbildung «Schulfach Glück» hätten ihr nicht nur geholfen, selbst glücklich zu sein, sondern auch, die persönliche Entwicklung ihrer Schülerinnen und Schüler zu fördern.

Zufälle existieren

Manchmal klingt Miggiano wie ein Selbsthilfe-Ratgeber, wenn sie Dinge sagt wie: «Zufälle gibt es. Aber die Tür musst du selbst aufmachen. Und dazu braucht es Mut.» Trotzdem glaubt man ihr, dass sie es ernst meint. Wahrscheinlich, weil sie auch heikle Fragen offen beantwortet. Etwa, dass der Wechsel zum Lehrerberuf nicht immer einfach war. «Manche denken, ich sei arrogant, weil ich in Sitzungen nicht so viel Geduld habe.» Sie sei sich halt die Effizienz aus der Finanzwelt gewöhnt. «Oder sie fragen: Wieso bist du bei uns gelandet, hattest du ein Burnout?» Laut Miggiano würden viele, auch Lehrpersonen selbst, ihren Berufswechsel als Abstieg werten. Sie wirkt auch glaubwürdig, wenn sie die Frage beantwortet, weshalb sie einem Porträt in der «Schweiz am Wochenende» zugestimmt hat: «Ein Stück weit sicher aus Eitelkeit. Und dann wollte ich die Gelegenheit nutzen, über Glück sprechen zu können, weil mir das Thema wichtig ist.»

Dann schweift sie inhaltlich ab. Und nennt schliesslich auf Nachfrage doch noch den letzten Grund, weshalb sie dem Interview zugestimmt hat: «Marketing für meine Weiterbildungskurse», sagt sie verschmitzt.

Wie glücklich sind Sie von eins bis zehn?

Im Atrium der «Mitte» herrscht mittlerweile Hochbetrieb. Es ist Mittagszeit, die meisten Tische sind besetzt, der Geräuschpegel aus Stimmen, Kindergeschrei, Lachen und Telefonklingeln ist hoch, aber gleichmässig. Lucia Miggiano stellt ihre leere Tasse auf einen Tisch und will sich verabschieden. Als sie die letzte Frage zu hören bekommt, lächelt sie und schaut nachdenklich in die Ferne. «Wie glücklich ich jetzt gerade bin? Von eins bis zehn?» Sie denkt kurz nach und antwortet: «Neun.»

Dann überlegt sie es sich nochmals anders und sagt: «Nein, eigentlich zehn.»