Sind Anagramme Zufallsprodukte oder gibt es wirklich eine geheimnisvolle Welt hinter den Wörtern?
Wer «Harry Potter» oder Romane von Dan Brown gelesen hat, weiss, was ein Anagramm ist. Wir alle sind schon einmal auf das Phänomen gestossen, dass sich Wörter durch einen Buchstabenwechsel in andere Wörter verwandeln lassen. So wird aus Eden Ende, aus Basel Salbe oder aus Fehler Helfer.
Wörter oder Sätze, die durch Umstellung der Buchstaben entstanden sind, nennen wir Anagramme. Mehrere Anagramme, untereinander zu einem Text zusammengestellt, sind Anagrammgedichte. Man kann das Anagramm als reine Spielerei abtun, doch wer feststellt, dass aus Erasmus von Rotterdam «Verstandes Motorraum» oder aus Friedrich Nietzsche «Zecher, Christi Feind» wird, kommt doch leicht ins Grübeln. Sind diese Ergebnisse des Buchstabentausches Zufall? Oder gründen sie auf einer wie immer gearteten «Biologie der Wörter» (Ludwig Zollitsch)?
Darüber liess im 4. vorchristlichen Jahrhundert bereits Platon in seinem Dialog «Kratylos» Sokrates und zwei weitere Philosophen debattieren. Obwohl als Vater des Anagramms meist Lykophron aus Chalkis (320–280 v. Chr.) genannt wird, findet sich schon bei Platon das bedeutungsschwangere Anagramm «(H)éra – aér» (Hera – Luft). Der Ursprung des Anagramms dürfte jedoch noch älter sein, wohl so alt wie die Buchstabenschrift und zu verorten in der Magie.
Die weitere Geschichte des Anagramms ist ein ständiger Kampf um die Beantwortung der Frage, ob es eine «Verzauberung der Welt» in der Sprache gibt oder ob Buchstaben beliebig gewählte Zeichen sind. In der christlichen Bibelauslegung spielte der Buchstabe als solcher keine grosse Rolle, denn Paulus hatte geschrieben: «Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig» (2. Korinther 3,6).
Dagegen stellte die mittelalterliche Tradition der jüdischen Kabbala, insbesondere die Technik der Temurah («Tausch»), einen Zusammenhang von Buchstaben und Sinn her. Im hebräischen Anagramm «B reschit / Brit-esch» (Am Anfang / Bund des Feuers) etwa werden Schöpfung und Thora inhaltlich aufeinander bezogen.
Im Barock verbreiteten sich unter dem Einfluss der christlichen Rezeption der Kabbala Anagramme gleichsam epidemisch. Die Barockzeit wurde von einem wahren «furor angrammaticus» (Anagrammwut) erfasst und kann fast als «anagrammatisches Zeitalter» bezeichnet werden. Es gab sogar Anagrammanekdoten. So soll im Dreissigjährigen Krieg ein kaiserlicher Soldat das Wort «SVED» (Schwede) in den Schnee geschrieben haben und erschrocken sein, als er rückwärts «DEVS» (Gott) las.
Wie schon in der Antike galt auch im Barock die Devise «Nomen est omen». Man liess sich gar sein eigenes Anagramm stellen. So wurde aus dem Buchdrucker Pierre Basot, der gern dem Wein zusprach, «prest à boire» (prest = prêt; bereit zum Trinken).
Schon im Spätbarock und noch mehr in der Aufklärungszeit wurde das Verfertigen von Anagrammen als Beschäftigung für Müssiggänger und schwache Geister diskreditiert. Bestenfalls war das Anagramm noch Rätsel und Spiel.
Das 19. Jahrhundert brachte Frankreich zwar eine gewisse Anagramm-Renaissance. Aber erst mit Freuds Entdeckung der Wirkung des Unbewussten auf die Worterzeugung und mit dem – auf hohem Niveau gescheiterten – Versuch über das Anagramm des Linguisten Ferdinand de Saussure kamen Anagramme wieder ins Blickfeld.
Das Ananym, ein Pseudonym in Anagrammform, überlebte alle Krisen. Schon Voltaire hatte diese Technik genutzt und der Lyriker Paul Celan hiess eigentlich Paul Ancel. Die Surrealisten entdeckten die kreative Seite des Anagramms. André Breton nahm den Ausdruck «Alchemie des Wortes» des Dichters Rimbaud auf und anagrammierte Salvador Dalí zu «Avida Dollars» (dollargeil).
Ihren ersten Höhepunkt erlebte die moderne Anagrammpoesie mit den Anagrammgedichten von Unica Zürn, die eine der wenigen Frauen im Kreis der Surrealisten war. Am 8. August 1988 schliesslich schrieb der Dichter Dieter Scherr eine Postkarte an seinen Kollegen Gerhard Jaschke, auf der stand: «Alles im Anagrammfieber!»
Der Schweizer Zeichner und Dichter André Thomkins verwendete Anagramme figurativ und performativ. Kurt Mautz machte sich mit seinem Anagramm «Germanisten / nisten mager. / Man ist gerne / Nistgermane. / Sagt er Minne, / meint er Sang» über eine ganze Zunft lustig. Letztere war mit zunehmender Anagrammproduktion bald gefordert, das Phänomen des Letterwechsels theoretisch zu erforschen.
Das Interesse am Hintersinn der Wörter sickerte in die Populär- und Kinderliteratur ein. Im Jahre 2000 erschien «Das Anagramm-Geheimnis» von Carmen Thomas mit praktischen Anleitungen. Und Esther Spinner beschenkte die Kinderzimmer mit dem Buch «Die Amsel heisst Selma. Tier-Anagramme von A bis Z».
Dass unterdessen auch die U-Bahn-Stationen von London und Berlin akribisch anagrammiert worden sind, ist die Folge des unausrottbaren Bedürfnisses des Menschen, hinter den Zeichen einen noch tieferen Sinn zu entdecken, wie etwa im Anagramm «Liebe gibt keine / Beliebigkeiten».
*Thomas Brunnschweiler befasst sich seit über 25 Jahren mit Anagrammen. Sein «längstes deutsches Anagrammgedicht» kam 1998 ins Guinness Rekorde-Buch. 2004 erschien sein Essay «Magie, Manie, Manier» in der Anthologie «Die Welt hinter den Wörtern» (hrsg. v. Max Chr. Graeff). 2006 erhielten Heini Gut und er für den Anagrammroman «Die Meistererzählung» den ersten Deutschschweizer Anagrammpreis.