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Während wir nun unsere Sommertage in leiser, aber ständiger Furcht vor einer zweiten Welle des Coronavirus verbringen, müssen wir lernen, mit dem Risiko umzugehen, statt ihm komplett aus dem Weg zu gehen. Alles andere wäre für die Gesellschaft fatal.
Keine Herbstmesse 2020, keine Fasnacht 2020, keine Fan-Aufmärsche bei Spielen des FC Basel. Und wenn es so weitergeht, auch kein Weihnachtsmarkt, vielleicht kein Vogel Gryff im Januar 2021, und wie die nächste Fasnacht aussieht, wollen wir uns noch nicht einmal vorstellen. Schuld ist die Coronapandemie beziehungsweise schuld sind die Schutzmassnahmen, die unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahren sollen.
Damit das klar ist: Unter dem Aspekt der Gesunderhaltung der Bevölkerung sind diese Absagen richtig. Unter dem Aspekt des sozialen Friedens allerdings sind sie problematisch. Während die wirtschaftlichen Folgen dieser Entscheide umgehend reflektiert werden, geht vergessen, was der Bevölkerung fehlt. Denn Feste und Feiern sind nicht allein dazu da, den Profit jener Betriebe anzukurbeln, die nun wegen Ertragsausfällen in ihrer Existenz bedroht sind.
Volksanlässe sind ein Ventil. Oder wie es der Basler Professor und Kulturwissenschafter Walter Leimgruber einst in seiner Antwort auf die Frage «Warum feiern wir Feste?» formuliert hatte: «Das Fest ist der soziale Ort, an dem spontanes und emotionales Verhalten nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht ist. Man durchbricht gemeinsam die gewohnten Konventionen, entflieht der Monotonie des normierten Alltags mit seinen bisweilen belastenden Erfahrungen.» Somit sei die Frage erlaubt: Was, wenn nicht ein Fest, bräuchte die Bevölkerung denn jetzt?
Während wir nun also unsere Sommertage in leiser, aber ständiger Furcht vor einer zweiten Welle des Coronavirus verbringen, darob nach dem WC-Papier Gesichtsmasken bunkern, selbst tüchtig die Hände desinfizieren, die Nachlässigen anprangern und in vorbildlichster Manier zu allseitiger Vernunft und Verzicht aufrufen, fehlt etwas. Dieses Etwas ist das, was die Leute in den vergangenen Wochen auch in Basel zu Hunderten und teils Tausenden auf Demonstrationen trieb, was einen Bar-Abend in der Steinenvorstadt ausufern liess, was zu regelrechten Freiluftpartys am Rheinbord führt: Das Fest, die Versammlung, das sind «symbolische, expressive Handlungen», um erneut Leimgruber zu zitieren. Handlungen, «die Rückschlüsse auf Gliederung und Strukturen, Wertesystem und Vorstellungen der Teilnehmenden erlauben».
Es ist eine unendlich schwierige Aufgabe, als Verantwortungsträger den Entscheid über Stattfinden oder Absage dieser Ereignisse zu fällen. Sogar einen temporären Lockdown zu verordnen, ist einfacher, als mittelfristig aus der Sache wieder rauszukommen: Die Frage, was man wie lange oder ab wann wieder machen darf, brennt in uns allen.
Diese Gesellschaft ist aber kein Grossraumbüro, in dem man den hinterletzten Präventionsrenitenten im Namen der Vernunft und per Zwangsmassnahmen ins Homeoffice verweisen kann. Sie ist ein eigenwilliges, heterogenes Wesen, so schillernd wie die Individuen, die sie bilden. Und diese Heterogenität bedingt im Jahreslauf die Phasen der Leichtigkeit, des Loslassens. Wer jemals Basler Fasnacht gemacht oder auch nur einen FCB-Match erlebt hat, der weiss: Das sind die gemeinsamen Ventile der Zivilgesellschaft einer ganzen Region.
Was wir brauchen, sind Möglichkeiten, als Gesellschaft zu ventilieren – nicht nur, indem wir unsere Wut auf Maskenleugner richten, zu Denunzianten im Namen der Gesundheitspolitik werden oder unterbinden, was im Ansatz ein Risiko bilden könnte. Wir brauchen nicht nur die in letzter Zeit so oft als Begriff bemühte «neue Normalität», wir brauchen auch einen neuen Weg, mit ihr klarzukommen. Wir brauchen also das Gegenstück, eine Art Fest, und sei es nur eine deutlich abgespeckte Variante des Üblichen. Es geht hier nicht nur um die Herbstmesse, es geht auch darum, was nach ihr kommt. Sei’s drum, ja: Es braucht mehr Schutzkonzepte und damit mehr Möglichkeiten statt komplette Absagen und Unmöglichkeiten.
Ansonsten droht zuzunehmen, was schon begonnen hat: Die Ventile bilden sich im Kleinen. An spontanen Freiluftpartys, in Clubs, an Demonstrationen, wo man dem angestauten Frust, der Wut und den Überforderungen des Alltags Luft machen oder ihnen entkommen kann. Der erlaubte kollektive Shoppingrausch, der übermässige Medienkonsum oder der gelegentliche Restaurantbesuch kompensieren das nicht.
Wir müssen daher nicht nur lernen, uns im 21. Jahrhundert mit den Erfahrungen einer Pandemie und den sie begleitenden Massnahmen abzufinden. Wir müssen auch lernen, mit dem Risiko umzugehen, statt ihm komplett aus dem Weg zu gehen. Diese diffizile, aber entscheidende gesellschaftliche Arbeit ist jetzt die eigentliche Herausforderung.