Gesundheit
Akte Menschenversuch: Auch die Baselbieter Psychiatrie testete Medikamente an Patienten

Die Psychiatrie Baselland arbeitet ein dunkles Kapitel auf: Auch hier wurden bis in die 1970er-Jahre nicht zugelassene Medikamente an Patienten ausgetestet. Eine neue Studie geht davon aus, dass fünf bis zehn Prozent aller Patienten betroffen waren.

Michael Nittnaus
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Psychiatrieschwestern vor der Klinik Hasenbühl Liestal 1965. Diese wurde später in Psychiatrie Baselland PBL umbenannt. Psychiatrieschwestern vor der Klinik Hasenbühl Liestal 1965. Diese wurde später in Psychiatrie Baselland PBL umbenannt.
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Nachforschungen in den Archiven haben jetzt ergeben: Versuche mit nicht zugelassenen Medikamenten gab es einst auch in der Psychiatrie Baselland.
Historische Bilder der Psychiatrie Baselland PBL: Auf der Terrasse des Hasenbühls Liestal 1965. Historische Bilder der Psychiatrie Baselland PBL. Auf der Terrasse des Hasenbühls Liestal 1965
Historische Bilder der Psychiatrie Baselland PBL: Personalausflug ins Anatomische Institut Basel 1965. Historische Bilder der Psychiatrie Baselland PBL. Personalausflug ins Anatomische Institut Basel 1965
Psychiatrie Baselland

Psychiatrieschwestern vor der Klinik Hasenbühl Liestal 1965. Diese wurde später in Psychiatrie Baselland PBL umbenannt. Psychiatrieschwestern vor der Klinik Hasenbühl Liestal 1965. Diese wurde später in Psychiatrie Baselland PBL umbenannt.

ZVG Psychiatrie Baselland

Dossier Nr. 3466, 13. August 1957. Diagnose: «Endogene, depressive Verstimmung bei verstimmbarer, reizbarer, unzufriedener Psychopathin. Hat der Familie von jeher Schwierigkeiten gemacht. Therapie: Neuroplegicum Geigy-Kur. Largactil. Doriden.»
11. September 1957, Brief an den überweisenden Arzt: «Ihre Patientin konnte am 9.9.57 sozial geheilt nach Hause entlassen werden. Patientin äusserte keine Klagen mehr, war in ausgeglichener Stimmung und arbeitsfreudig. (...) Wir gaben Patientin bis zuletzt noch täglich 3x 2 Tabletten des Neuroplegicum der Geigy, das leider noch nicht im Handel ist, sowie abends eine Tablette Doriden. Wir gaben Patientin das Medikament ausreichend für 14 Tage mit. Statt dieses Neuroplegicum könnte später Pacatal oder Largactil gegeben werden.»

Dieser Auszug entstammt einer von 263 Patientenakten der Psychiatrie Baselland (PBL), welche die Universität Zürich in einer Pilotstudie untersuchte. Es zeigt: Was in Kliniken in Zürich, Münsterlingen, Herisau oder auch der psychiatrischen Uni-Klinik Basel bereits aufgedeckt wurde, ist nun auch für die PBL nachgewiesen. Zwischen 1953 und 1972 kam es zu Versuchen an psychiatrischen Patienten mit Medikamenten, die nicht oder noch nicht für den Markt zugelassen waren. Konkret stiessen die Forscher bei ihrer Stichprobe von 263 Akten – zwischen 1950 und 1980 sind 8000 Patientenakten der PBL im Staatsarchiv hinterlegt – auf 28 Fälle, bei denen mindestens ein Präparat ohne Handelsnamen verabreicht worden ist. Sie schätzen deshalb, dass fünf bis zehn Prozent aller Patienten dieser Zeit von Medikamententests betroffen waren. Damit liegt die PBL im Bereich der anderen untersuchten Psychiatrien der Schweiz.

Immenses Aktenstudium

263 Patientenakten der Psychiatrie Baselland zwischen 1953 und 1972 untersuchte die Pilotstudie der Uni Zürich. Das Fazit der Stichprobe: In 28 Fällen wurden Medikamente verabreicht, die noch nicht auf dem Markt waren. Die Studie geht deshalb davon aus, dass damals fünf bis zehn Prozent aller Patienten betroffen waren.

Immerhin: in Baselland keine Kinder betroffen

16 Präparate konnte die Studie benennen, vor allem Antipsychotika und Antidepressiva, acht davon erhielten später die Zulassung, drei gibt es noch heute. Wie gefährlich diese Medikamentenversuche für die Patienten waren, haben die Forscher nicht untersucht. «Todesfälle fanden wir aber keine», sagt Flurin Condrau vom Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Uni Zürich bei der Medienpräsentation am Freitag. Ebenso wenig seien – im Gegensatz etwa zur Klinik im thurgauischen Münsterlingen – Kinder in den Stichproben aufgetaucht.

Die Präsentation fand in den Räumlichkeiten der PBL in Liestal statt. Denn die Institution hat die Pilotstudie selbst in Auftrag gegeben. Dies nachdem es im Buch des Soziologen und Liestaler alt Stadtpräsidenten Lukas Ott über die Geschichte der PBL erste Hinweise auf Medikamentenversuche gegeben hatte. «Ich finde es wichtig, dass eine Psychiatrie mit seiner Geschichte im Reinen ist», sagt CEO Hans-Peter Ulmann. 40 000 Franken nahm die PBL dafür in die Hand. Daher blieb es auch bei einer stichprobenartigen Untersuchung. Condrau geht aber davon aus, dass eine umfassendere Studie kaum zu anderen Erkenntnissen kommen würde.

Historischer Kontext ist entscheidend

Der Zürcher Professor betonte zudem mehrfach, dass man die Versuche mit Psychopharmaka unbedingt im historischen Kontext sehen müsse. Vor 1970 war Ethik in der Forschung praktisch unbekannt und erst mit dem Contergan-Skandal 1961 rückte die Patientensicherheit bei der Zulassung von Medikamenten langsam in den Fokus. Als deshalb die «chemische Revolution» nach dem Zweiten Weltkrieg Psychopharmaka erst ermöglichte, sei das laut Condrau ein echter «Gamechanger» gewesen.

Die Psychiatrie habe voll in die neuen medikamentösen Behandlungsmethoden investiert, unterstützt durch die (Basler) Pharmaindustrie. Erst in den Siebzigerjahren liess dieser Boom nach und die medizinische Ethik hielt Einzug, weswegen die Forscher bei ihren Stichproben ab da auch keine Versuche mehr in der Psychiatrie Baselland fanden.