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Erwin Ott, 68, führt seit Jahren einen Papierkrieg gegen Amtsstellen. Er ist überzeugt: Beim Lärmschutz wird getrickst. Damit nichts getan werden muss.
Verkehr kann man nicht wegzaubern. In Riehen aber ist genau das geschehen – jedenfalls auf dem Papier. Doch ein Anwohner schaut genau hin.
Erwin Ott wohnt am Grenzacherweg. Dort hat sich der Verkehr halbiert, quasi über Nacht, rechtzeitig zum 1. April 2018: Dem Tag, an dem die Lärmschutzverordnung des Bundes auch für Nicht-Autobahnen verbindlich wurde. Und wegen dieser wundersamen Lärmsanierung des Grenzacherwegs erübrigten sich weitere Massnahmen. Etwa die Einführung von Tempo 30 oder der Einbau eines neuen Flüsterbelags. Denn die berechnete Lärmbelastung sank von 61 Dezibel auf 57,7. Der Grenzwert: 60 Dezibel.
An Zauberei will Erwin Ott nicht glauben. Eher an eine mögliche Zahlentrickserei der beteiligten Amtsstellen. «Der Verkehr wurde nie sauber und nachvollziehbar erhoben», sagt er. «Das Verfahren ist nicht transparent, man erhält keine Einsicht in die Datenbasis.» Es könne der «Verdacht von Willkür» entstehen.
Erwin Ott sitzt im Garten seines Reihen-Einfamilienhauses, das er 2003 bezogen hat. Vor sich ausgebreitet: Mehrere Bundesordner voller Akten. Berichte, Eingaben, Einsprachen. «Als Bürger wird man in der Wahrung seiner Rechte behindert und als dumm verkauft», sagt der 68-Jährige. «Das lasse ich mir nicht bieten.»
Erst kürzlich hat Ott bei der Geschäftsprüfungskommission des Grossen Rates einen Antrag eingereicht. Sie soll die Vorgehensweise der beteiligten Ämter untersuchen. Ott kennt den Politbetrieb im Rathaus: Der pensionierte Sozialarbeiter sass von 1984 bis 1992 selber im Kantonsparlament, für die Progressiven Organisationen Basel (POB). Ott galt als der erste offen schwule Grossrat der Schweiz.
Alles sei mit rechten Dingen zugegangen am Grenzacherweg, schreibt das zuständige Amt für Umwelt und Energie (AUE). In Basel-Stadt würde die Verkehrsbelastung im Strassenlärmkataster ausgewiesen. Als Grundlage für die Modellberechnung diene das jeweils aktuelle Gesamtverkehrsmodell Region Basel (GVM). Ende März 2018 sei der Strassenlärmkataster ausgehend vom GVM des Jahres 2010 neu berechnet worden. Während das Vorgängermodell, das Modell 2008, beim Grenzacherweg pro Tag rund 4400 Fahrzeuge aufgeführt habe, seien es beim Modell 2010 nur noch 2200 gewesen – also halb so viele. Von dieser Zahl ausgehend wurde dann die Lärmbelastung berechnet.
Die Lärmschutzverordnung von 1987 ist klar: Wird bei einer Strasse der Grenzwert überschritten, haben die Eigner die Pflicht, Massnahmen zu prüfen. Das können Geschwindigkeitsreduktionen, Lärmschutzwände, schallschluckende Beläge oder Lärmschutzfenster sein. In der Verordnung ist aber auch eine Art Notausgang eingebaut. Erachten die zuständigen Stellen gewisse Massnahmen als nicht verhältnismässig, können sie sich selber Erleichterungen gewähren. Dann darf der Grenzwert weiterhin überschritten werden – die Strasse gilt trotzdem als lärmsaniert. Das Instrument kommt massenhaft zum Einsatz. Im Baselbiet etwa hat der Kanton 2018 total 189 Strassenzüge saniert, bei 182 waren jedoch Erleichterungen im Spiel.
Erwin Ott bezweifelt auch Daten, die den Berechnungen für den Grenzacherweg zu Grunde liegen. So würde der Verkehrsfluss für Riehen lediglich modelliert, «und das erst noch anhand von lediglich fünf fixen Zählstellen an den Eingängen der Gemeinde.» Derartige Modellierungen seien legitim und üblich, heisst es dagegen von Seiten Kanton. Das hielt der Regierungsrat auch im Februar in der Beantwortung einer Interpellation von SP-Grossrätin Sasha Mazzotti fest.
Man hätte die Mittel, den Verkehr korrekt zu erheben. Doch das geschieht nicht.
(Quelle: Erwin Ott, Grossrat 1984–1992)
Es gebe eine weitere Ungereimtheit, sagt Ott. Im Grenzacherweg sei eine Induktionsschlaufe eingebaut, mit der man den Verkehr zählen könnte. Doch sie sei nicht mehr in Betrieb, teilte ihm die Gemeinde mit. «Man hätte die Mittel, den Verkehr korrekt zu erheben. Doch das geschieht nicht. Für mich ist das unverständlich.»
Auch dem AUE war offensichtlich nicht ganz wohl mit dem halbierten Verkehrsaufkommen. Jedenfalls hält die Regierung in der erwähnten Interpellationsantwort fest, das AUE werde die Werte am Grenzacherweg überprüfen. Das sei wegen Umleitungen bislang nicht möglich gewesen, teilt das Amt der bz mit. Jetzt fänden die Erhebungen «voraussichtlich im November 2020» statt.
Zwar hat der Grenzacherweg bereits 2007 einen Flüsterbelag erhalten. Doch diese Oberflächen verlieren rasch an Wirksamkeit. Und schon 2002 begrenzte der Kanton die Höchstgeschwindigkeit auf 40 Stundenkilometer.
Seine diversen Einsprachen und Beschwerden haben Erwin Ott nach eigenen Angaben rund 18000 Franken gekostet. Seine Hoffnung ruht auf einem Musterprozess. In Kriens will ein Anwohner den Kanton Luzern verklagen. Der habe es unrechtmässig unterlassen, eine Strasse zu sanieren. Der Krienser kündigt an, bis vor Bundesgericht gehen. Ott ruft zu Spenden auf.
Für ihn und seine Mitstreiter steht fest: Beim Lärmschutz wählen die Behörden den Weg des geringsten Widerstands. Der Grenzacherweg ist überall.
An zwei Strassen in Allschwil ist es klar zu laut. Die Gemeinde will jedoch kein Tempo 30 einführen, sondern die Lärmwerte mit schallschluckenden Belägen reduzieren. Das beschloss der Gemeinderat im März 2018, kurz bevor die Lärmschutzverordnung des Bundes in Kraft trat. Die Baselbieter Regierung ist damit aber nicht einverstanden: Sie weist die Gemeinde dazu an, eine Kombination aus Tempo 30 und Flüsterbelägen zumindest zu prüfen. Erst danach könne sie, falls die Sanierungsziele nicht erreicht werden, Erleichterungsverfügungen beantragen. Zuvor hatten Anwohner der Parkallee und der Spitzwaldstrasse beim Regierungsrat eine aufsichtsrechtliche Anzeige gegen die Gemeinde eingereicht. (bwi)