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Basel
Bei Raphael wurde frühkindlicher Autismus diagnostiziert. Er sieht die Welt mit anderen Augen, zeigt kein Interesse an anderen Kindern und spricht nicht. So geht Mutter Fabienne Schenker mit der Krankheit ihres Sohnes um.
Auf den ersten Blick wirkt Raphael wie ein ganz gewöhnliches Kind. Der 3-jährige Basler erkundigt jede Ecke seines Lieblingsspielplatzes in den Langen Erlen. In der rechten Hand hält er sein Madeleine, in der linken ein paar Steine, die er bereits gefunden hat. Doch beim längeren Hinsehen fällt auf: Raphael tickt anders.
Akribisch sucht er sich seine Steine zusammen, wird ganz nervös, wenn diese nicht seinen Ansprüchen entsprechen. Er schaut jeden ganz genau an, ertastet die Ecken und Kanten mit seinen kleinen Fingern. Dann wirft der Junge die Steine in den Brunnen. Über Stunden. Hochkonzentriert lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen. Andere Kinder oder generell, was um ihn herum passiert, ist ihm egal. Er lebt in seiner eigenen Welt, die nur er gänzlich versteht. Seine Beziehung zu anderen und der Aussenwelt ist hingegen eingeschränkt.
Als Raphael 15 Monate alt war, merkte seine Mutter Fabienne Schenker, dass er statt Fort- eher Rückschritte machte. «Er konnte Mama und Papa sagen – aber auf einmal hörte er damit auf und er sprach gar nicht mehr», erinnert sich Schenker. Er hörte auch plötzlich nicht mehr auf seinen Namen.
Sie spürte, dass etwas nicht stimmt. «In seinen ersten Lebensmonaten war Raphael extrem anhänglich und suchte ständig den Körperkontakt. Es brach mir das Herz, als er uns plötzlich keine Küsse und Umarmungen mehr gab.» Fabienne Schenker weinte nächtelang. Doch sie war entschlossen, herauszufinden, was mit ihrem Sohn los ist.
Die Kinderärzte und -psychologen führten diverse Untersuchungen durch. Sie stellten den Eltern unzählige Fragen, filmten den Jungen beim Spielen. Und sie testeten beispielsweise auch, ob Raphael überhaupt hören kann. Kann er. Doch die Kinderpsychologen fanden heraus, dass der damals Anderthalbjährige an Autismus leidet – eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung, deren genaue Ursache unbekannt ist. Nach Angaben von «Autismus Schweiz» kommen hierzulande pro Jahr zwischen 550 und 800 Kinder mit einer sogenannten Autismus-Spektrum-Störung zur Welt. Betroffene sehen, hören und fühlen die Welt anders als ihre Mitmenschen.
Raphael Schenker ist ein fröhlicher Junge. Er lächelt, fuchtelt mit den Armen und fängt an auf den Zehen zu hüpfen, wenn ihm etwas Freude bereitet. Doch es sind nicht die gängigen Dinge, die bei ihm eine solche Reaktion hervorrufen. Es sind nicht die Tiere, an denen er auf dem Weg zum Spielplatz in der Langen Erlen vorbeikommt, oder Spielautos, Holzeisenbahnen oder Lego-Steine.
Der 3-Jährige «spielt» lieber mit den Duschmitteln und Bodylotions, die er in einer Reihe aufstellt. Und während andere Kinder sich beim Besuch bei der Grossmutter auf Brettspiele und Gutzis freuen, läuft Raphael schnurstracks zu den Gewürzen, um diese nach seinen Vorstellungen zu sortieren. «Es muss alles genau so sein, wie er sich das vorstellt», so Fabienne Schenker. Wenn nicht, werde er verunsichert und misslaunig.
«Als Eltern mussten wir lernen, seine Interessen zu verstehen und zu deuten – weil er uns als nonverbaler Autist nicht sagen kann, was er mag und was nicht», erklärt Fabienne Schenker, die aus einer früheren Beziehung eine 16-jährige Tochter hat. Es sei vor allem zu Beginn schwer für sie gewesen. Sie fing an zu recherchieren, las diverse Bücher und Publikationen im Internet.
Auf diese Weise – und im Austausch mit den Psychologen und Therapeuten – lernte die 39-jährige Mutter, wie sich der Autismus bei ihrem Sohn zeigt und was ihm helfen könnte. Denn dabei handelt es sich um keine generische Krankheit. Autismus ist eine Spektrums-Störung, was bedeutet, dass die betroffenen Menschen sich sehr voneinander unterscheiden.
Viele Autisten haben Probleme mit sozialen Kontakten, mit der Kommunikation und zeigen wiederholte, stereotype Verhaltensweisen – so auch Raphael. Alle Klischees erfüllt der Knabe aber nicht. «Ich werde immer wieder gefragt, wieso er als Autist überhaupt lacht, Blickkontakt halten kann oder was für eine Inselbegabung er denn habe», sagt Schenker. Es sei möglich, dass Raphael irgendwann eine Inselbegabung entwickelt, dafür sei es aber noch zu früh.
Fabienne Schenker spricht offen über die Krankheit ihres Sohnes und den gemeinsamen Alltag. «Mir ist es wichtig, andere für die Thematik zu sensibilisieren», sagt die Mutter. Oft würden Eltern von kognitiv unauffälligen Kindern unbewusst ohne das nötige Feingefühl auf Raphaels Art reagieren.
«Es ist anstrengend, wenn ich mich ständig rechtfertigen muss. Aber die Schwierigkeit ist, dass man ihm seine Behinderung halt nicht sofort ansieht.»
Raphaels Eltern müssen ständig schauen, was er macht, wo er ist und wie er sich auch gegenüber anderen verhält. So kann es schnell passieren, dass er Kindern die Spielsachen oder das Essen aus der Hand reisst, weil er nicht über korrektes und inkorrektes Handeln urteilen kann. Deshalb geht Fabienne Schenker mit ihm auch nur auf Spielplätze, die eingezäunt sind und es möglichst keine anderen Kinder hat. Auch in der Spielgruppe im Quartier kommt es so immer wieder zu Zwischenfällen mit neurotypischen Kindern. Der Umgang mit ihnen sei für Raphael jedoch wichtig, da er planmässig im kommenden Jahr in den Kindergarten kommt.
Der autistische Junge kennt keine Angst. Er öffnet Fenster, begibt sich und andere in Gefahr. Für die Mitarbeitenden in der Spielgruppe bedeutet das eine besondere Herausforderung, die im Falle von Raphael schwer zu erfüllen ist. «Sie geben wirklich ihr bestes», betont Schenker, «aber mein Sohn braucht theoretisch eine Person, die nur für ihn zuständig ist». Es ist ein Wunschdenken, zumindest aktuell.
Hilfe bekommt Raphael seit vergangenem August im Autismuszentrum in Aesch (siehe Box). Er ist der jüngste Patient, der dort bisher behandelt wurde. Da die Plätze sehr begrenzt sind, müssen Betroffene erst ein Bewerbungsverfahren durchlaufen. In Raphaels Fall hat es geklappt.
Das Zentrum für Gehör, Sprache und Kommunikation (GSR) in Aesch besteht aus dem Autismuszentrum (Gründung 2008), der Sprachheilschule und dem Audiopädagogischen Dienst. Im August 2017 wurde es als zusammengeführtes pädagogisch-therapeutisches Zentrum eröffnet. Im Autismuszentrum werden Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung im Alter von zwei bis fünf Jahren gefördert. Die transdisziplinäre Zusammenarbeit im Team erfolgt durch Fachpersonen der heilpädagogischen Früherziehung, Logopädie, Ergotherapie und Fachpersonen zur Betreuung. «Ziel der Förderung ist es, dem Kind eine, seinem Potenzial entsprechende, Weiche auf dem persönlichen Bildungsweg zu ermöglichen. So erhält das Kind eine echte Chance auf Integration in die Gesellschaft», erklärt Leiterin Bettina Tillmann. Die drei Fachbereiche beschäftigen sich mit den bei Autismus-Spektrum-Störung vorhandenen Merkmalen im Bereich von Kommunikation, Interaktion und dem Spielverhalten. (aib)
Während zweier Jahre erhält er im Autismuszentrum eine auf ihn abgestimmte Therapie, die sich primär aus Logopädie, Heilpädagogik und Ergotherapie zusammensetzt. «Wir sind unglaublich froh um diese Chance», sagt Fabienne Schenker. Fortschritte habe er bereits gemacht, beim Erzählen wird die stolze Mutter emotional.
«Meine grösste Hoffnung ist, dass mein Kind sprechen kann. Das wünscht sich jeder Elternteil innig. Aber das kann dir niemand versprechen.»
Ihren Job als Spitex-Mitarbeiterin musste Schenker nach dem Mutterschaftsurlaub aufgeben, ihr Mann arbeitet weiterhin Vollzeit. In ihren freien Minuten ist sie in verschiedenen Facebook- und Whatsapp-Gruppen unterwegs, um sich mit anderen betroffenen Müttern auszutauschen. Auf Instagram verfolgen über 16'000 Personen den Alltag von ihr und Raphael. Das vollständige Gesicht ihres Sohnes zeige sie aber bewusst nicht.
«Instagram ist für mich wie eine Art Therapie», so Fabienne Schenker. Der Verweis #autismmom in ihrer Biografie zeigt auf den ersten Blick, dass die Autismus-Spektrum-Störung ihres Sohns ein zentrales Thema in ihren Posts und Storys darstellt. «Es tut gut, den Kontakt zu Gleichgesinnten zu pflegen und ich habe dadurch auch schon einige Freundinnen gewonnen.» Sie sprechen über Hindernisse, schlaflose Nächte oder teilen Erfolge miteinander.
Für einige Mütter ist sie auch eine Art Vorbild, eine Bezugsperson. «Pro Tag bekomme ich sicher drei oder vier Nachrichten von Eltern, deren Kinder in der Autismus-Abklärung sind und Fragen haben. Sie wollen verstanden werden». Aber nicht all ihre Follower sind in einer vergleichbaren Situation wie sie. Viele haben «kerngesunde» Kinder und interessieren sich einfach für sie und ihr Privat- und Familienleben.
Auch für den Besuch auf dem Spielplatz ist Fabienne Schenker bestens herausgeputzt. Sie sagt: «Mir ist wichtig, dass ich mich als Frau nicht verliere, nur weil ich einen Sohn habe, der besonders viel Aufmerksamkeit braucht». Sie trägt Make-up, Goldschmuck und als Farbtupfer zum schwarzen Outfit knalligen Nagellack.
Das hindert sie aber nicht daran, zusammen mit Raphael nach Steinen zu suchen. Oder den ganzen Arm in den Brunnen zu stecken, um für ihren Sohn ein im Wasser schwimmendes Stück Holz herauszuholen, das er mit Lauten und Ziehen an der Hand verlangte. Kaum hat er es, schmeisst er es wieder ins Wasser. Dasselbe mit den Steinen. Stundenlang. Fabienne Schenker ist egal, dass ihr Arm unterdessen bis zur hochgekrempelten Jacke nass und beinahe durchgefroren ist. Hauptsache, Raphael ist glücklich.