Nordkorea
Hinter den Bergen: Das Literaturhaus Basel gewährt Einblicke in eine Diktatur

Mit «Herbst in Nordkorea» legt der Schriftsteller Rudolf Bussmann ein eindrückliches Reise-Essay vor – informativ, bewegend, beklemmend. Das Literaturhaus Basel lädt heute Donnerstag zur Lesung mit dem Autor.

Giorgio Giuliani
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Bushaltestelle in Pjöngjang mit mythischem Berg Paektusan.

Bushaltestelle in Pjöngjang mit mythischem Berg Paektusan.

Katharina Schelling / Alpines Museum der Schweiz

Welche Bilder haben wir im Kopf, wenn wir von Nordkorea hören? Marionettenhafte Menschen in Massenaufmärschen, Atomraketentests, Hungersnöte, Gefangenenlager und natürlich: Diktator Kim Jong-un hoch zu Ross auf seinem Schimmel.

Ja, Nordkorea ist ein Pulverfass der Weltpolitik. Aber ist es auch mehr? Der Basler Schriftsteller Rudolf Bussmann will hinter diese Bilder schauen. Er will sehen, wie die gewöhnlichen Menschen leben. Gemeinsam mit der in der Schweiz lebenden südkoreanischen Journalistin und Übersetzerin Hoo Nam Seelmann reist er im Herbst 2018 in den entlegenen und wenig entwickelten Nordteil des Landes.

An ein selbstständiges Reisen ist in diesem Staat nicht zu denken – sogar Nordkoreaner dürfen in ihrem eigenen Land nicht frei herumreisen. Von früh bis spät werden die beiden von drei Nordkoreanern begleitet, die für sie Ausflüge in die Berge, Besuche und Kontakte in Betrieben, Schulen und weiteren Institutionen arrangieren. Wie kann man unter diesen Bedingungen zu einem eigenen Bild kommen?

Ausstellung: Das Alpine Museum der Schweiz bietet eine raffinierte filmische Annäherung an Nordkorea

Ist es Zufall? Ist es Vorsehung? Die Ausstellung «Let's Talk About Mountains» im Alpinen Museum in Bern ist jedenfalls eine ideale Ergänzung zum Buch von Rudolf Bussmann – und umgekehrt. Sechs Jahre hat das Team um Direktor Beat Hächler an diesem Projekt gearbeitet. Es ist das schwierigste und zeitlich aufwendigste, das er je gemacht hat. Wie bringe ich ein so verschlossenes und strengstens reguliertes Land zum Sprechen und in einen Dialog mit der Schweiz? Indem ich etwas scheinbar völlig Unpolitisches wie die Berge ins Zentrum stelle und die Gesellschaft sich darin spiegeln lasse.

2018 und 2019 reiste das Schweizer Team für jeweils mehrere Wochen nach Nordkorea und brachte insgesamt 45 Stunden Filmmaterial zurück. In der Ausstellung ist das, falls man alles sehen will, auf dreieinhalb Stunden verdichtet. Eineinhalb bis zwei Stunden sollte man sich für die Ausstellung in jedem Fall nehmen – die Auseinandersetzung lohnt sich.

Durch schwarze Labyrinthgänge geführt, tauchen wir ein in die raumhohen Projektionen eines Freizeitparks, wo sich Jung und Alt vergnügen; in das Strassenbild der Hauptstadt Pjöngjang, wo die Bushaltestellen nicht mit Werbung, sondern mit riesigen Naturbildern verziert sind; in eine staatliche Kunstmanufaktur, wo Tausende von Kunstschaffenden genau solche Gemälde der Bergwelt herstellen; hinein in eine Schulstunde, wo der ideologische Wert dieser Berge als Rückzugsgebiete aus der Zeit des Widerstands und der Staatsgründung doziert wird; zu einfachen Landarbeitenden, die mit einfachsten Mitteln ihr Tagwerk verrichten; und schliesslich hinauf in einen Luxus-Skiresort für chinesische Touristen und hinüber zum mythischen Paektusan, dem «heiligen Berg der Revolution» mit den zahlreichen Ausflüglerinnen und seiner wirklich grandiosen Aussicht auf den vulkanischen Kratersee. Alltags- und Zauberbilder, die das Publikum förmlich umschliessen.

Hinzu kommen auf kleineren Monitoren 35 Interviews mit Einzelpersonen. Running Gag: Fast alle danken dabei für praktisch alles emphatisch dem «geliebten Führer», der ihnen das alles geschenkt hat und für sie sorgt. Es ist wie Gottesdienst. Und man hat nicht den Eindruck, dass sie nicht glauben, was sie sagen.

Kein Stein blieb auf dem anderen

Die Ausstellung verzichtet auf direkte Kommentare zu den Filmen. Und das ist gut so. Man kann selber denken. Dringend empfehlen kann man aber den grossformatigen, 200 Seiten starken Katalog mit reichhaltigem Bild- und einordnendem Textmaterial für bescheidene 14 Franken. Man möchte ständig daraus zitieren. Hier nur ein Zitat aus dem zentralen Beitrag von Rüdiger Frank, Professor für Wirtschaft und Gesellschaft Ostasiens an der Universität Wien, zum Flächenbombardement der US-Luftwaffe im Koreakrieg:

«Hier kam auch erstmals im grossen Stil Napalm zum Einsatz. In den meisten Siedlungen führte das zu einer Zerstörungsrate bis zu 95 Prozent. Kein Stein blieb auf dem anderen, keine Brücke, kein Staudamm, keine Strasse blieb unbeschädigt. Das legalisiert die Obsession Nordkoreas mit einer wirksamen Abschreckung durch nukleare Aufrüstung gegen die USA zwar nicht, macht sie aber nachvollziehbarer.»

Aus Nordkorea konnte das gesamte Film- und Tonmaterial unbesehen ausgeführt werden. Bei der Einreise nach Südkorea hingegen wurde sämtliches Material unter Verschluss genommen und erst bei der Ausreise wieder freigegeben.

«Let’s Talk About Mountains», Alpines Museum der Schweiz in Bern, bis 3. Juli 2022. www.alpinesmuseum.ch

Es sind mehrere Faktoren, die das kleine Wunder möglich machen. Zuallererst: Bussmann ist ein glänzender Beobachter mit dem Blick für Subtilitäten. Und er kann sie in eine so präzise wie atmosphärisch dichte Sprache fassen. Zudem tritt er nicht als Wissender auf, sondern als Fragender – auch sich selbst und seinen Wertungen gegenüber. Er ist nicht der rasende Reporter, der das grosse Panoramabild behauptet und uns alles erklärt. Er ist vielmehr der Sammler von Puzzleteilen, der um die Lücken und Zweifel im Bild weiss und sie nicht kaschiert.

Brutalität ohne Beschönigung

Und es ist genau diese Haltung, die uns als Lesende auf so bestechende Weise mitnimmt auf diese Reise ins Ungewisse, Ambivalente und Vorläufige. Am Schluss hat man das Gefühl, man habe diese Reise selber mitgemacht. Bussmann ist hingerissen von der stupenden Perfektion einer schulischen Zirkus-Revue – aber die Augen der Kinder erscheinen ihm leer. Die lebhafte Englischlektion an einer Eliteschule lässt keine Wünsche offen. Und der Beobachter fragt sich: Können diese jungen Menschen ihre Neugier und Kommunikationslust im engen Korsett einmal wirklich nutzen?

Verstehen versuchen heisst nicht verharmlosen oder beschönigen. Bussmann lässt keine Zweifel an der Brutalität des Systems, das sich nicht einmal um die Fassade eines Rechtsstaats bemüht. Aber er verschränkt die zahlreichen Detailbeobachtungen immer wieder geschickt mit analytischem und historischem Hintergrundwissen. Der Koreakrieg von 1950 bis 1953 brachte dem Norden mit den flächendeckenden Zerstörungen durch die US-Luftangriffe eines der grössten Massaker der Weltgeschichte.

Fotoszene mit Arbeitsbrigade auf dem Gipfel des Paektusan.

Fotoszene mit Arbeitsbrigade auf dem Gipfel des Paektusan.

Katharina Schelling / Alpines Museum der Schweiz

Im Wiederaufbau danach unter dem Staatsgründer Kim Il-sung wuchs die nordkoreanische Wirtschaft stärker als die südkoreanische. Und 1960 hatte das Land eine der höchsten Wachstumsraten der Welt; sein Bruttosozialprodukt übertraf dasjenige von Südkorea um mehr als das Dreifache. Im Kalten Krieg wurde Nordkorea zum Bauernopfer im Spiel der Grossmächte. Heute ist das BIP von Südkorea mehr als 20-mal höher als das des Nordens. Es ist dieser raffinierte Wechsel von Nahperspektive und Übersichtsblick, der die Lektüre dieses Buches besonders ergiebig macht.

Beklemmung und Schmunzelmomente

Warum aber fährt ein feinsinniger Autor und Lyriker, dem alles Plakative zuwider ist, ausgerechnet nach Nordkorea? «Ursprünglich wollte ich nur einen privaten Augenschein nehmen», erklärt Bussmann. «Die Faszination und der Drang, dies in einem Buch festzuhalten, entstand erst auf der Reise. Diese Abwesenheit von jeglicher Technik, die Einfachheit des Lebens, die tiefe Armut weckten starke Erinnerungen an meine eigene Jugendzeit.»

Hat sich unter den vielen Eindrücken ein Bild besonders eingebrannt? «Das ist wahrscheinlich das Bild der Frauen, die von der Ernte kommend ihre mit schweren Säcken voll Mais und Reis beladenen Velos mühsam den Berg hinaufstossen – und ich das Gefühl habe, sie fallen jetzt gleich tot um.»

Gibt es einen Ort, wo der Fernreisende gerne mehr erfahren hätte? «Sehr gerne hätte ich ein paar Tage ganz unbeobachtet in einem kleinen Dorf erlebt, wie die Menschen im Alltag ihr Leben meistern. Wie kommen sie zu ihrem täglichen Bedarf? Wie wird er zugeteilt? Gibt es überhaupt Läden?» Dies und anderes mehr war nicht möglich.

Eine letzte Frage an den Autor: Kann man wirklich einem ganzen Volk das Freiheitsbedürfnis austreiben?

«Ja, offensichtlich. Indem man alle, die nicht spuren, sofort aus dem Verkehr zieht und aufs Härteste bestraft, auch mit Sippenhaft. Das führt zu dieser beklemmenden Verängstigung in der Bevölkerung.»

«Herbst in Nordkorea» bietet aber auch etliche Schmunzelmomente aus Absurdistan. Allein die Regeln, die man beachten muss, wenn man eine der 30'000 monumentalen Kim-Statuen im Land fotografieren will, sind jeweils kabarettistische Kabinettstückchen.

Die Reise darf man sich als Strapaze vorstellen; das Buch ist ein erhellendes Lesevergnügen.

Rudolf Bussmann, «Herbst in Nordkorea». Rotpunktverlag 2021, 216 Seiten.
Lesung im Literaturhaus Basel: Donnerstag, 22. April, um 19 Uhr.