Simon Morgenthaler besucht für die ‹Schweiz am Wochenende› frei assoziierend und fabulierend regionale Orte mit prägnanten Namen. Dabei macht er sich viele falsche Freunde und begibt sich zielstrebig auf Irrwege.
Wie ich oben an der Treppe des Elftausendjungfern-Gässleins ankomme, bin ich mir nicht sicher, ob ich 69 oder 70 Stufen gezählt habe, auch nicht, ob diese Unsicherheit von einer Rechenschwäche oder einem Mangel an Sauerstoff herrührt, also steige ich – zählend – wieder hinab.
Als Ursula, noch bevor sie heilig und also recht lebendig war, auf ihrer Pilgerfahrt nach Rom in Basel Station machte, sei sie diese Treppe zu St. Martin hinaufgestiegen, also mutmasslich auch die 11’000 Jungfrauen in ihrem Gefolge, respektive die 10’999, da sie ja wohl selbst auch als virginal einzurechnen ist. Ob der Grund, warum später ein Basler hier eine der ersten Pflästerungen der Stadt spendierte, in dieser Trampelei von 22'000 keuschen Füssen liegt, die den Weg vermutlich für Jahrhunderte übel zugerichtet haben, oder darin, dass ein Bischof jedem, der diese Treppe erklomm, zwei Wochen Sündenerlass versprach, bleibt unklar, denke ich auf der dreiundreissigsten Stufe.
Dass allerdings Ursula treppauf daran dachte, ihr könnte bald ein Engel verkünden, dass – wenn wieder zurück in Köln – ein Hunne sie mit Pfeilen durchlöchern werde, und wenn sie doch daran gedacht hätte, sie nicht vielleicht ihre Reise abrupt abgebrochen und sich aller potenziellen Heiligkeit zum Trotz in Sicherheit begeben hätte, ist schwer vorstellbar. Ich stolpere auf den Rheinsprung – verzählt. Man habe das «M.» in einer Quelle fälschlicherweise als «milia», als «1000» gelesen statt als «martyres», und so seien aus 11 Jungfrauen 11’000 geworden, erinnere ich mich hinaufsteigend. Meine Pflästerungstheorie gerät ins Wanken. Und nicht nur das. Wie viele Einwohner hatte Basel zu Olims Zeiten? Ein paar tausend? Wären da 11’000 Jungfrauen auf einen Schlag nicht eher als eine Art Apokalypse in die Geschichte eingegangen? Wieder runter.
Unvermittelt sehe ich die Sprayerei rechterhand – «I’m not anti-social, I’m anti-bullshit» – und ich remple mit verdrehtem Kopf fast eine ältere Dame um. Es wird existentiell. Warum zähle ich eigentlich die Stufen und rase asozial wie einer, der zwanghaft in Intervallen joggend dem Tod zu entrinnen sucht, treppauf, treppab? Ich haste immer weiter. Schon auf allen vieren breche ich verschwitzt zusammen. Da erscheint mir die Hl. Ursula, mit Spraydose, in Punkerkluft: Ob ich denn ernsthaft daran glaube, dass mir ob dieser Rennerei meine Sünden erlassen würden, lacht sie, das sei doch alles «bullshit». Ich japse.
Es ist ein Kreuz mit diesen Heiligen.