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Die Geldstrafe für eine Roma-Bettlerin in Genf verstiess gegen die Menschenrechtskonvention. Zu diesem Urteil kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Das könnte Auswirkungen haben auf das Bettelverbot in anderen Schweizer Kantonen.
Der Kanton Genf hat mit einer 500-Franken-Busse und einer mehrtägigen Gefängnisstrafe die Menschenrechte einer Roma-Bettlerin verletzt. Zu diesem Schluss kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg in seinem am Dienstag veröffentlichten Urteil. Der Richterspruch könnte Folgen für die Umsetzung des allgemeinen Bettelverbots haben, wie es in 14 von 12 Schweizer Kantonen gilt.
Konkret geht es im Fall von Genf um eine heute 28-jährige Rumänin, die der ethnischen Minderheit der Roma angehört. Gestützt auf das Genfer Bettelverbot wurde sie 2011 zu einer Strafe von 100 Franken verurteilt. In den folgenden zwei Jahren wurde die Frau weitere achtmal gebüsst und zweimal für je drei Stunden in Gewahrsam genommen. Im Jahr 2014 verhängte das Polizeigericht Genf eine kumulierte Geldstrafe von 500 Franken. Der Rekurs am Bundesgericht in Lausanne wurde abgelehnt. Weil sie die Busse nicht bezahlen konnte, musste die Rumänin im März 2015 eine fünftägige Gefängnisstrafe in der Anstalt von Champ-Dollon antreten.
Nun urteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass die Schweiz mit der Geldbusse und der Gefängnisstrafe den Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention («Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens») verletzt habe. Die Frau stamme aus einer Familie in extremer Armut, sei Analphabetin, arbeitslos und beziehe keine Sozialleistungen. In ihrer klaren Situation als verletzliche Person sei es ihr Recht gewesen, durch Betteln auf ihre Notlage hinzuweisen und so ihr Überleben zu sichern. Die Geldbusse von 500 Franken und die Umwandlung in eine fünftägige Gefängnisstrafe seien eine harte Sanktion gewesen, welche durch das öffentliche Interesse nicht gerechtfertigt gewesen sei.
In einer vergleichenden Rechtsanalyse anerkennt der EGMR zwar, dass die Mehrheit der dem Europarat angehörigen Staaten wie die Schweiz Massnahmen und Restriktionen gegen das Betteln anwenden würden. Er stellt das Bettelverbot also nicht grundsätzlich in Frage.
Jedoch seien die Massnahmen in den einzelnen Ländern differenzierter ausgestaltet und weniger weitreichend als das pauschale Bettelverbot in Genf. Mit der hohen Busse und der Gefängnisstrafe für die Frau würde weder das Ziel der Bekämpfung des organisierten Verbrechens noch der Schutz von Passanten, Anwohnern oder Ladeninhabern erreicht. In der Verhandlung machte die Klägerin geltend, dass sie nie eine Gefahr für die öffentliche Ordnung dargestellt habe. Der Argumentation des Schweizer Bundesgerichts, wonach nur die restriktiven Massnahmen zum gewünschten Ergebnis geführt hätten, folgte der EGMR nicht. Die Richter in Strassburg fällten ihr Urteil einstimmig inklusive der Schweizer Vertreterin Helen Keller.
Auf Anfrage heisst es vom Genfer Sicherheitsdepartement, dass das Bettelverbot nicht geändert werde. Allerdings sei es möglich, dass die Richter künftig die Strafen anpassen werden. Diese müssten «verhältnismässiger in Bezug auf den Verstoss» und «Fall für Fall» festgelegt werden», so Sprecher Laurent Paoliello. Das heisst, dass die persönliche Situation einer Bettlerin oder eines Bettlers wie auch die mögliche Zugehörigkeit zu einer organisierten Bande genauer abgeklärt werden müssten, was die Untersuchungen stark verkompliziere. Klar ist auch, dass der Entscheid für Schweizer Kantone, welche wie Genf ein pauschales Bettelverbot kennen und dieses auch so umsetzen, Signalwirkung haben dürfte.
Als Wiedergutmachung gestützt auf Artikel 41 der Menschenrechtskonvention muss die Schweiz der Rumänin nun 922 Euro (knapp 1000 Franken) bezahlen. Beide Seiten haben drei Monate Zeit, um das Urteil an die Grosse Kammer des EGMR weiterzuziehen.