Mit ihrem Geschichtenband «Grösser als Du» ist Veronika Sutter für den Schweizer Buchpreis nominiert. Literarisch raffiniert erzählt die Zürcherin von häuslicher Gewalt.
Ja, das Etikett nervt sie ein wenig: Engagierte Literatur gegen häusliche Gewalt. Dass Veronika Sutter in den bisher wenigen Besprechungen und Porträts auf dieses Thema reduziert wird, ist so naheliegend wie oberflächlich – und sehr schade. Die thematische Klammer ihres Debüts und ihre eigene berufliche Laufbahn haben so viel politische Brisanz und Aktualität, dass ihr Buch allzu vorschnell vor allem als eindringliches soziales Engagement angesehen wird.
Die 1958 geborene Veronika Sutter war Buchhändlerin, Journalistin, Kulturveranstalterin und arbeitet derzeit als Kommunikationsverantwortliche einer Zürcher Institution für geistig Behinderte. 1991 hat sie Aktionen für den Frauenstreik mitorganisiert und setzte sich dann viele Jahre gegen Gewalt an Frauen ein, unter anderem bei Amnesty International und im Vorstand des Frauenhauses Zürich. Diese Erfahrungen fliessen in ihr Buch ein, und sie sagt auch:
Über meinem Schreibtisch stand zu meinem literarischen Projekt ein Thema: ‹Abhängigkeitsbeziehungen.›
Die Jury des Schweizer Buchpreises nimmt allerdings für sich in Anspruch, ausschliesslich die literarische Qualität eines Buches zu beurteilen und sich nicht vom Zeitgeist oder vom Renomée eines Autors blenden zu lassen. Und man kann hier die Jury uneingeschränkt loben. Denn Veronika Sutters Geschichtenband ist motivisch so dicht, mit präzisen Beobachtungen gespickt, mit sinnlicher Präsenz, dezent aufgeladener Symbolik und einer fein verwobenen Dramaturgie, dass man sich darin als Entdecker erlebt. Kurz: Starke Themen, tolle literarische Feinarbeit.
Auf dem Cover steht zwar als Genrebezeichnung «Geschichten». Man kann ihr Buch aber genauso gut als modernen Montageroman lesen, der mit blitzlichtartigen Schnappschüssen biografische Szenen ihrer Protagonistinnen zum Generationenporträt und zu einer kollektiven Frauenbiografie des späten 20. Jahrhunderts in der Schweiz verdichtet. Das wird einem aber erst nach einigen Geschichten klar, was den Lesereiz noch steigert.
In den 15 Geschichten, die allesamt zwischen den beiden Frauenstreiks 1991 und 2019 spielen, blickt Veronika Sutter in Wendepunkte im Leben von sieben Frauen und ihren Männern. Sie erzählt dabei vom Welschlandjahr der blutjungen Helen, die als Hotelaushilfe eine Affäre mit einem verheirateten Mann hat, über toxische Beziehungen mit gewalttätigen Trinkern, der schwierigen Befreiung aus solchen Partnerschaften bis zu Glorias Grossmutter Anni, die am Ende ihres langen Lebens ihrem gewalttätigen Ehemann verzeiht. Dass Sutter dabei die ganze Gefühlspalette von Angst und Scham über erotische Tagträume bis zu unterdrückter Wut, Rechthaberei und Selbsthass nicht erklärt, sondern in Szenen aufscheinen lässt, gehört zur Qualität dieses Buches.
Wenn etwa die junge Mutter mit der Zungenspitze den Zigarettenfilter antippt und es heisst, das sei der beste Moment des Tages, spürt man ihre Anspannung und ihre versiegte Lebensfreude als Leser körperlich mit. Die Verängstigung wird zum leisen Horror, wenn der surrende Lift, der die Ankunft des Ehemanns ankündigt, ihr das Bild eines elektrischen Stuhls vor Augen führt. Sutter kann auch mit dem Morbiden spielen: Wenn Caro am Lidrand ihrer verunglückten Tochter wässriges Blut entdeckt und wegen ihrem Wimpern an ein Schwein erinnert wird, dessen Abschlachten sie als Kind mit ansehen musste, wird einem die zwischen Zärtlichkeit und Abscheu zerrissene Gefühlslage der jungen Frau drastisch bewusst. Solche Szenen voller Ambivalenzen gibt es im Buch viele. Und wenn sie Gloria sagen lässt: «Wenn jemand nett zu mir ist, werde ich misstrauisch», scheint die psychologische Dramatik klar auf.
Skurrile und ebenfalls beschädigte Nebenfiguren ergänzen dieses Generationenporträt. Einmal schlüpft Sutter in die Täterrolle, mit seiner selbstgefälligen Erklärung. «Zu Beginn wollte ich gar keine Männerperspektive. Aber ich bin froh, dass ich diese doch noch eingebaut habe. Ich wollte ja kein Einzelschicksal auswalzen, und mit dem Perspektivwechsel wird das Thema der Abhängigkeitsbeziehungen nochmals erweitert.» Gespräche mit Täterbetreuern hätten ihr dabei sehr geholfen. Dieses stilsichere Schreiben ist umso verblüffender, wenn man Veronika Sutter sagen hört:
Ich bin komplette Autodidaktin. Die Nomination für den Buchpreis hat mich total überrascht.
Zwar hat sie in den 1990er Jahren zwei Preise für Kurzgeschichten erhalten. Zeit für literarisches Schreiben sei ihr aber neben ihrem Beruf in der Kommunikationsbranche kaum geblieben. Aber gelesen habe sie immer, und sehr genau, sagt sie. Und wenn sie über ihre aktuelle Lektüre, Gottfried Kellers «Romeo und Julia auf dem Dorfe» spricht, wird rasch klar, warum ihre eigene Literatur so präzis, sinnlich und symbolisch aufgeladen ist. Sie beschreibt jene Szene, in der Vreni und Sali als Kinder eine Puppe sezieren und eine Fliege darin einschliessen – eine Szene, die zärtliche Verbundenheit und Schicksalsankündigung verbindet. So ein literarisches Verfahren findet man auch in Veronika Sutters Buch. Sorgfältige Lektüre kann also zum Schlüssel werden für das eigene Schreiben.
An diesem Herbsttag steht Veronika Sutter nun lächelnd und selbstbewusst auf dem weitläufigen Helvetiaplatz, mitten in Zürichs Arbeiterquartier. Hier finden die Frauenbewegung und die Figuren ihres raffinierten Geschichtenbandes zusammen. Hier strömten 1991 und 2019 Tausende Frauen zum Frauenstreik zusammen, für eine ihrer Protagonistinnen der Moment der Befreiung. Auch die anderen Frauen im Buch lösen sich aus toxischen Beziehungen. Nur eine stirbt. «Grösser als Du» endet dramatisch und gleichzeitig mit philosophischer Gelassenheit. Beides steckt auch in Veronika Sutter: Der Kampf gegen Missstände und ein tröstlicher Blick zurück – ohne Hadern: «Beides gehört zum Leben.»
Veronika Sutter: Grösser als Du. Geschichten. Edition 8, 188 S.
Am 7. November wird der Schweizer Buchpreis verliehen. Vier Bücher sind noch im Rennen.