Unsere Kolumnistin Simone Meier berichtet diese Woche vom Leben mit Krücken – und wo sie kleinen Inseln der Warmherzigkeit begegnet ist.
In den letzten Wochen habe ich die Welt von einer anderen Seite her kennen gelernt. Von einer pseudoakrobatischen. Und gefährlichen. Ich habe sie zum ersten Mal in meinem Leben mit Krücken erkundet. Vielleicht erinnern Sie sich an meine letzte Kolumne, an einen Winterwunderland-Spaziergang im Engadin, der von einem Sturz auf einem glattgefrorenen Weg unterbrochen wurde, was sich unangenehm in meinem Knie verewigte. Genauer: in einem gerissenen Kreuzband. Ein Dutzendunfall also.
Ich musste vieles ablegen: Haltung, Würde, einen einnehmenden Gesichtsausdruck und normale Hosen. Ich wurde zu einem verstört dreinschauenden, grobmotorigen Wesen im Trainer. Zudem war mir nie zuvor aufgefallen, dass Trottoirs im Winter wahre Menschenfallen sind. Ich lernte, was ich schon auf dem Velo immer befürchtet hatte: Dass in Zürich der Mensch mit Auto mehr zählt als der Mensch ohne. Kaum nähert sich hier nämlich eine Schneeflocke einer Fahrbahn, wird sie bereits von gierigen Salzkörnern erwartet und verschlungen. Die Trottoirs dagegen lässt man vergletschern und wartet auf wärmere Tage oder auf Anwohner, die noch bei Dunkelheit mit ihren Salzkesseln die Strasse hoch und runter schlipfen.
Ich bin vor dem Einbruch der grossen Weihnachtswärme auf meinen hundertfünfzig Metern Gletscherwanderung bis zur Tramstation etlichen anderen Gekrückten begegnet. Wir drückten uns Hauswänden entlang, krallten uns tattrig an Büschen fest in der Hoffnung, dass die glasig gefrorenen Blätter und Zweiglein noch einen kleinen Halt bieten. Wir tasteten mit den Stöcken den Boden ab, machten hässliche Kratzgeräusche mit unseren Krücken-Spikes, und bildeten eine schlurfende und humpelnde Parallelgesellschaft. Und wenn wir uns gegenseitig so vorsichtig Platz machten, als wären wir mindestens 120 Jahre alt, lächelten wir einander zu und sagten: «Gute Besserung!»
Es waren kleine Inseln der Warmherzigkeit. Auch die Menschen in Tram und Bus sprühten nur so vor Barmherzigkeit, ganz egal wie mühselig der Pendelverkehr für sie selbst gerade war. Und als mich am Silvester ein vom Leben gezeichneter und offenbar frustrierter Obdachloser mit einer meiner eigenen Krücken zu verprügeln versuchte, wäre ihm das zweifellos gelungen, wenn mich nicht ein paar Passanten gerettet hätten.
Komplett unbarmherzig waren leider die meisten Autofahrerinnen und Autofahrer, denen ich in diesen Wochen begegnete. Noch nie haben sie mich beim Überqueren einer Strasse so oft mit der Hupe auf ihr Kommen hingewiesen, selbst wenn ich nicht einmal in die Nähe einer Beeinträchtigung ihres Fahrvergnügens kam. Keine Ahnung, was in ihren Köpfen vorging, gewiss nichts Gutes. Vielleicht ist ihr alberner Zierhund schon einmal von einem Krückengänger verscheucht worden. Oder jemand hat mit Krücken ihre Stiefmütterchen-Rabatte zerstört. Oder ihrem Auto gedroht. In mir löste ihr Verhalten jedenfalls ganz mühelos derartige Fantasien aus.