Welche Bedeutung hat die Geschichte für die Gegenwart? Die Kolumne von Gastautorin Susanne Wille.
Die beiden Villmergerkriege? Das ist einfach: 1656 und 1712. Dass ich die Daten bis an mein Lebensende kenne, verdanke ich lediglich der Eselsbrücke, die uns damals Primarlehrer Keusch aufzeigte. Die Postleitzahl des Dorfes Villmergen ist nämlich 5612. Geschichte ist aber mehr, als Daten auswendig zu kennen. Als ich meinen Kindern kürzlich die Gegend in Villmergen zeigte, erzählte ich von den Schlachten im Glaubenskonflikt der Eidgenossenschaft. Wie sich die reformierten und die katholischen Orte bekriegt hätten. Wie geplündert, gekämpft, gebrandschatzt worden sei.
Natürlich schmückte ich nicht aus, wie blutig die Kämpfe zwischen den Truppen tatsächlich gewesen sein mussten. Und doch sollen die Kinder wissen, dass der Boden, auf dem wir heute stehen, andere, weitaus finsterere Welten erlebt hat. Sie sollen verstehen, dass der Friede, die Stabilität, die Sicherheit in diesem Land, das harte, aber gewaltfreie Ringen um politische Kompromisse, die Toleranz im Alltag, die Meinungs- und Religionsfreiheit keine Selbstverständlichkeiten sind. Kurz: Dass alles auch mal ganz anders war. Dankbarkeit und Glück sind ja letztendlich immer auch eine Frage der Perspektive.
Ich denke, gerade angesichts der aktuellen politischen Lage im In- und Ausland, in einer Zeit also, wo autokratische Regierungen durchgreifen, wo der politische Ton allgemein schärfer wird, wo Journalisten an vielen Orten nicht mehr sagen dürfen, was sie denken, wo überhaupt zum Teil zu vergessen gehen droht, dass eine Demokratie auf einer Vielfalt von Meinungen basiert; gerade jetzt dürfen wir nicht vergessen, woher wir kommen. Was wir erreicht haben im gesellschaftlichen Zusammenleben. Dabei sind die alten Schlachten, der Kampf um die Vormacht in der Eidgenossenschaft, die konfessionellen Spannungen nur ein mögliches Beispiel. Solche lassen sich in jedem Land und notabene auch in der jüngeren Geschichte unseres Kontinents zur Genüge finden.
Das ist nur einer von zwei Hauptgründen, warum ich seit kurzem vermehrt als Historikerin meine Zunft verteidige. Und wenn nun überall Stimmen laut werden, die fordern, Programmieren müsse ein Pflichtfach an den Schulen werden, dann stelle ich mich nicht dagegen, auch nicht, wenn es darum geht, die naturwissenschaftlichen Fächer zu stärken. Aber es ist mir ein Anliegen, dass die Geschichte nicht vergessen geht. Wie oft bekam ich doch während des Studiums zu hören: Was willst du denn mit Geschichte? Damals war ich oft um eine Antwort verlegen. Wie sollte ich plausibel erklären, wozu die Kenntnisse um den Bürgerkrieg in Angola und die Rolle von Jonas Savimbi nütze sind? Etwas einfacher fiel es mir bei der Schweizer Geschichte. Und doch: Auch hier konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, was konkret mir dereinst das Wissen über Saubannerzüge und Habsburger bringen könnte.
Heute aber weiss ich es mehr denn je, Geschichte muss uns helfen, bewusster, sorgsamer mit der Gegenwart umzugehen. Der zweite Hauptgrund liegt aber in der Methodik. Geschichte lehrt, Quellen kritisch zu hinterfragen. Wer hat warum in welchem Kontext etwas festgehalten und niedergeschrieben? In einer Zeit wie heute, in der News oft schneller um den Globus gejagt werden, als dass sie analysiert werden können, in der Behauptungen und Wahrheiten vermischt werden, ist diese Art zu denken wichtiger denn je. Für Bürgerinnen und Bürger, für Medienschaffende, ja für alle. Kommt noch hinzu, dass Geschichte ja nie vollständig ist, weil überliefert. Das heiss: Geschichte lehrt auch, nach dem Versteckten zu suchen, nach den Erzählungen zwischen den Zeilen des offiziell Festgehaltenen. Auch dies scheint mir eine wichtige Denkform, ist die Verlockung doch gross, Meldungen einfach so hinzunehmen. 1:1.
Übrigens: Die Gegend, wo die Entscheidungsschlacht des ersten Villmergerkrieges stattfand, hiess schon immer Himmelrych. Ausgerechnet. Nicht nur eine schöne Fussnote der Geschichte, sondern vielleicht auch ein Hinweis darauf, dass trotz blutgetränkter Kapitel in der Geschichte eben auch Höheres und Gutes bleibt. Oder wie es Frank-Walter Steinmeier bei seiner Antrittsrede als deutscher Bundespräsident als Wunsch formulierte: «Dass nach Raserei der Ideologien so etwas wie politische Vernunft einkehren möge». Mögen wir uns diese Erkenntnis bewahren, sie nie als gegeben hinnehmen.
Die Autorin wurde in Villmergen geboren und arbeitet seit 2001 beim Schweizer Fernsehen. Sie hat das Nachrichtenmagazin «10vor10» moderiert und ist jetzt beim Politmagazin «Rundschau».