Analyse
Viel Zeit bleibt nicht

Eine Analyse zum Zustand der Basler Politik, kurz vor den Wahlen.

Patrick Marcolli
Patrick Marcolli
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In weniger als zwei Monaten stehen in Basel die Wahlen an.

In weniger als zwei Monaten stehen in Basel die Wahlen an.

KEYSTONE

Die Erde dreht schneller und schneller, sie bebt geradezu. Weltweite Pandemie, rhetorisches Gift von Trump, Nervengift von Putin, Populismus, Rassismus, Klimawandel. Auch dort, wo der Rhein in Richtung Norden dreht, spürt man die Ausläufer dieser epochalen Ereignisse. Auch Basel wird erschüttert davon, wenngleich nur von Ausläufern, die Epizentren sind weit weg. In dieser Stadt wiegt man sich in Sicherheit, auf der Basis von ökonomischer Stärke und politischer Stabilität.

A propos politische Stabilität – war da nicht was? Ja, es stehen Wahlen vor der Tür. In weniger als zwei Monaten. Und tatsächlich gäbe es ein grosses Angebot an Themen, die für Diskussionen sorgen könnten. Es gibt die Wohnbaupolitik und die Transformation von grossen Arealen zu neuen Stadtvierteln. Es gibt das Präsidialdepartement mit seiner Vorsteherin, die in einen Streit um den freigestellten Direktor des Historischen Museums verwickelt ist, sich darin immer tiefer verstrickt und alles andere als transparent kommuniziert.

Es gibt den Vorsteher des Gesundheitsdepartements, der sich als strenger Pandemie-Bekämpfer gibt und dabei die Versammlungsfreiheit stärker beschränkt als Kollegen in anderen Kantonen. Es gibt die Polizei und ihren politischen Chef, die sich mit immer mehr Demos auseinanderzusetzen haben und deren Strategie sich alles andere als einheitlich präsentiert. Und es gibt Bettlergruppen, die sich diesen Sommer in der Stadt temporär niedergelassen haben und das Selbstverständnis der Stadt als Ort des sozialen Ausgleichs und der äusseren Makellosigkeit auf die Probe stellen.

Die Stadt Basel, die sich gern als Kulturstadt bezeichnet, lässt eine richtige Streitkultur vermissen. Das war schon immer so – offene Konflikte vermeidet man hier. Aber in diesen Tagen hat sich eine weitere lähmende Schicht über diese Gesellschaft gelegt. Die matten Wahlkämpfer treffen auf ein ebenso mattes Volk. Die Aufmerksamkeitsspanne ist kürzer denn je. Ein paar kurze Kaskaden auf Twitter oder auf einem anderen «sozialen» Medium – und vorbei ist es. Alles prasselt an allen ab. Selbst die beiden Herausforderinnen der amtierenden Regierungspräsidentin gehen recht pfleglich mit ihrer politischen Gegnerin um. Auf Angriff geschaltet wird nur halbherzig. Und wo ist der Kandidat der SVP? Er scheint schon vor dem Start aufgegeben zu haben.

Was ist los? Basel geht es schlicht zu gut, auch wenn es individuell gesehen längst nicht allen gut geht. Die soziale Stadt gleicht aus, moderiert, verwaltet, macht abhängig. Der Wille zur Veränderung ist klein, es können alle mit allem irgendwie leben. Diese Saturiert- und Trägheit scheint momentan alternativlos, jedenfalls können auch die Herausforderer für den Regierungsrat und die nicht in der Regierung vertretenen Parteien sie nicht aufbrechen.

Kommt hinzu, dass der oben geschilderte Zustand der Welt uns mürbe macht. Wir alle denken mehr global als lokal, importieren Rassismusdiskurse aus den USA direkt auf unseren Strassen, sehen zwei alten weissen Männern zu, die sich um den mächtigsten Job auf diesem Planeten streiten und arbeiten uns an der Frage ab, wie gefährlich das Coronavirus nun wirklich ist. Die Lokalpolitik hat daneben kaum noch Platz, scheint vernachlässigbar. Aber ein alternativloses «Weiter so!» ist gefährlich. Die drängenden Fragen zur Zukunft Basels verschwinden nicht einfach so: Wie viel Sozialstaat, wie viel Pharma-Dominanz, wie viel «hohe» Kultur und wie viel Freizeitkultur wollen wir? Wo liegt ein gesundes Gleichgewicht zwischen Vorschriften und individueller Freiheit in einem von immer mehr Menschen mit immer unterschiedlicheren Bedürfnissen genutzten Stadtraum?

Irgendwann einmal, hoffentlich bald, müssen wir diese Fragen «post Corona» beantworten. An den Schaltstellen werden jene Politiker sitzen, die wir am 25. Oktober wählen. Noch bleibt Zeit, um eine echte Diskussionen zu beginnen.