Gastkolumne
Wo simples Schubladisieren nicht mehr möglich ist

Gastkolumne zur Frage was wir eigentlich für Literatur halten.

Reina Gehrig
Reina Gehrig
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Was ist Literatur? Und was nicht? Mit der Literaturnobelpreis-Vergabe an Bob Dylan haben diese Fragen wieder Hochkonjunktur.

Was ist Literatur? Und was nicht? Mit der Literaturnobelpreis-Vergabe an Bob Dylan haben diese Fragen wieder Hochkonjunktur.

Keystone/EPA FILE/JIM LO SCALZO

Bob Dylan hat kürzlich den Literaturnobelpreis 2016 erhalten. Selten hat die Vergabe eines Literaturnobelpreises in den letzten Jahren ein so grosses Echo ausgelöst. Den grössten und wichtigsten Literaturpreis einem Popmusiker zu verleihen, daran scheiden sich die Geister. Viele sind freudig überrascht: Endlich erhält jemand den Preis, dessen Namen ich schon mal gehört habe. Einige meinen: Bravo, endlich!

Darauf warten wir schon lange und es ist gut, dass die alten Herren in Stockholm sich dem Zeitgeist öffnen. Und dann gibt es natürlich auch diejenigen, die es für eine verfehlte Entscheidung halten, denn ein Songtext ist und bleibt ein Songtext, der nicht als ein Gedicht zu bewerten ist, denn ohne Musik fehlt ihm immer etwas.

Eine gewisse Verunsicherung macht sich breit. Und wir werden mit der Vergabe des Literaturnobelpreises gezwungen, darüber nachzudenken, was das ist: Literatur. Ja, was ist es denn, Literatur? Vor unserem inneren Auge sehen wir wohl alle zuerst ein gebundenes Buch, darin ein Text im Blocksatz, der uns eine Geschichte erzählt.

Ja, Gedichte können auch darin stehen. Wenn wir etwas länger nachdenken, erinnern wir uns an unsere Schullektüre, an Goethes Faust beispielsweise, oder an Shakespeares Hamlet. Und plötzlich fällt uns auf, dass es sich bei diesen Texten um Dramentexte handelt, die für die Bühne geschrieben wurden.

Für ein Schauspiel, das in einem Bühnenbild stattfindet und von Schauspielern mithilfe von Mimik, Gestik und in Kostümen vorgetragen wird. Literatur also, die für das gesprochene Wort geschrieben worden ist. Das bringt uns vielleicht auf den Gedanken, ob denn die Texte, die an einem Poetry Slam vorgetragen werden, nicht auch Literatur sind? Und so weitet sich das Feld, und der Begriff Literatur beginnt sich auszudehnen.

Dennoch gibt es Texte, die wir eindeutig der Literatur zuordnen, und andere Texte, denen wir keine literarische Bedeutung zumessen, wie der letzten SMS, oder einem Artikel in dieser Zeitung. Aber wurde nicht letztes Jahr mit Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch eine Journalistin und Autorin mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet? Unter anderem für ihre Reportagen?

Sie sehen, die Sachlage ist komplex. Was aber nicht heisst, dass wir die Entscheidung, was wir als Literatur betrachten und was nicht, einfach den Expertinnen und Experten überlassen sollten.

In der bildenden Kunst haben wir gelernt, selbst darüber nachdenken zu müssen, was Kunst ist und was nicht. Auch da gibt es Formen, die wir ganz klar als Kunstwerk bezeichnen (möchten) und andere, in denen wir keine Kunst erkennen können.

Während zum Beispiel die Hodler-Bilder selbstredend Wertschätzung geniessen, kommt solche meinen Kritzeleien beim Telefonieren nicht zu. Da aber, wo wir unsicher werden und etwas nicht mehr mit Sicherheit bewerten und bezeichnen können, da wird es spannend.

Das simple Schubladisieren ist da nicht mehr möglich. Wir müssen uns eine eigene Meinung bilden mit Argumenten, die nicht alle teilen werden. Genau das hat die Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan ausgelöst.

Wir sehen uns gezwungen, darüber zu diskutieren, was wir für Literatur halten und was nicht. Und das empfinde ich als grosse Bereicherung, da wir unsere eigenen Schubladen wieder einmal aufmachen und neu ordnen müssen. Eine Bereicherung, die mit sich bringen wird, wovon Dylan singt, nämlich: «The Times They Are A-Changin’».