Medienpolitik
Angriff auf die Medienfreiheit? Parlament beschliesst «Maulkorb»-Artikel

National- und Ständerat sind sich einig: Richter sollen Medienberichte einfacher vorsorglich stoppen können – für mehr Persönlichkeitsschutz. Auch der Nationalrat schlägt die Warnungen der Branche vor diesem «Maulkorb»-Artikel in den Wind.

Reto Wattenhofer
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Mehr Handlungsspielraum für Richter: Das Parlament möchte die Hürde für vorsorgliche Massnahmen gegen Medienberichte senken. (Symbolbild)

Mehr Handlungsspielraum für Richter: Das Parlament möchte die Hürde für vorsorgliche Massnahmen gegen Medienberichte senken. (Symbolbild)

Keystone

Es geht eigentlich um eine kleine Änderung in der Zivilprozessordnung. Die Rechtskommission des Ständerates schlägt vor, die Hürde für vorsorgliche Massnahmen gegen Medienberichte zu senken. Damit ein Richter vorsorglich etwa eine Veröffentlichung eines Artikels verhindern kann, soll die Berichterstattung nur noch einen «schweren Nachteil» verursachen müssen.

Heute muss für eine so genannte superprovisorische Massnahme eine betroffene Person aufzeigen, dass ein «besonders schwerer Nachteil» vorliegt. Was sich technisch anhört, kommt immer wieder vor. Jüngstes Beispiel ist die Entführung des Impfpräsidenten Christoph Berger. Dieser erwirkte mit einer superprovisorischen Verfügung durch das Bezirksgericht Zürich, dass sein Name in Medienberichten nicht genannt wird.

Bundesrat sieht keinen Handlungsbedarf

Letzten Juni stimmte der Ständerat dem Passus zu. Am Dienstag tat es ihm der Nationalrat gleich. Er sprach sich mit 99 zu 81 Stimmen bei 7 Enthaltungen für tiefere Hürden bei vorsorglichen Massnahmen gegen Medien aus. Widerstand kam vor allem von der Ratslinken, vereinzelt auch aus den bürgerlichen Reihen. Der Schritt sei ein «unverhältnismässiger und unnötiger Angriff auf die Medienfreiheit», kritisierte Min Li Marti (SP/ZH).

Der Bundesrat lehnt tiefere Hürden ebenfalls ab. Es sei im Interesse der Medien und der Pressefreiheit, dass hier besondere Voraussetzungen gelten würden, argumentierte Justizministerin Karin Keller-Sutter. Auch zweifelte sie daran, dass Handlungsbedarf gegeben sei.

Sturm im Wasserglas

Dem widersprach Patricia von Falkenstein (FDP/BS). Heute bestehe ein Ungleichgewicht zwischen dem Recht auf Persönlichkeitsschutz und der Freiheit der Medien. Eine leichte Verschiebung zugunsten der Betroffenen sei weder ein «Anschlag auf die Demokratie» noch «Zensur».

Auch Judith Bellaiche (GLP/ZH) verteidigte die Streichung des Wortes «besonders». In der Vergangenheit hätten Verlage bisweilen «Stories und Schlagzeilen ohne Rücksicht auf menschliche Verluste rausgehauen». In diesen Fällen gehe es nicht um ein «überwiegendes öffentliches Interesse», sondern um «Klicks, Likes und Comments», wobei einzig die «Sensationslust befriedigt» werde. «Hier gibt es kein gottgegebenes Recht, Existenzen zu zerstören.»

Pirmin Schwander (SVP/SZ) stellte grundsätzlich in Zweifel, dass sich mit der Änderung etwas ändere. «Auf das Wort ‹besonders› kommt es nicht an.» Die Streichung sei eher politischer Natur. Das räumte selbst die Ratslinke ein. Trotzdem sende das Vorhaben ein negatives Signal aus. Im schlimmsten Fall würden heikle Recherchen nicht mehr angegangen, gab Marti zu bedenken. Auch blieben Mächtige verschont, weil diese das Geld hätten, um sich teure Anwälte zu leisten.

«Kritischer Qualitätsjournalismus» in Gefahr?

Damit schlägt das Parlament auch die Warnungen der Branche in den Wind. Im Vorfeld der Debatte im Ständerat hatte eine breite Medienallianz aus Verlagshäusern, Verbänden und Gewerkschaften gegen die Anpassung geweibelt. Sie sieht den «kritischen Qualitätsjournalismus» in Gefahr. Die Änderung hätte «schwerwiegende negative Konsequenzen» für die Medienfreiheit in der Schweiz.

Die Allianz geht davon aus, dass die gängige Gerichtspraxis zulasten eines kritischen Journalismus revidiert würde. Ihrer Ansicht nach würde das «Tür und Tor öffnen für das vorschnelle Stoppen missliebiger, kritischer Recherchen». Die oftmals kostspieligen Gerichtsverfahren bekämen vor allem kleine oder lokale Medientitel zu spüren.

Diese Vorstösse werden vermutlich auch behandelt

Ausserdem hiess der Nationalrat eine Kommissionsmotion deutlich gut. Damit soll der Bundesrat beauftragt werden, bei Gerichten ein Pikettdienst einzurichten. Damit soll – gerade bei Persönlichkeitsverletzungen – der Zugang zu den Gerichten und vor allem zu superprovisorischen Massnahmen sichergestellt werden. Auch ein Kommissionspostulat mit der gleichen Stossrichtung fand eine Mehrheit.