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Schweiz
Die Schweiz lebe in einem «absoluten Ausnahmezustand». Nicht einmal im Zweiten Weltkrieg habe der Bundesrat so stark eingegriffen ins Leben der Menschen, sagt SVP-Generalsekretär Peter Keller. Die Partei droht mit einer Verschärfung.
Zunächst hatte SVP-Doyen Christoph Blocher Alain Berset als «Diktator» bezeichnet. Tags darauf folgte seine Tochter Magdalena Martullo in der NZZ mit dem Begriff «Diktatur». Präsident Marco Chiesa machte diesen dann im «Tages-Anzeiger» Top-Down zur Parteidoktrin.
Es ist Bundespräsident Guy Parmelin, ein SVP-Politiker, der seinen Parteikollegen im Doppel-Interview mit Bundesrätin Karin Keller-Sutter bei CH Media widerspricht: «Wir leben sicher nicht in einer Diktatur», sagt er. «Nur schon darum nicht, weil bei uns das Volk der Chef ist.»
Die SVP zählt zwei Bundesräte, einer als Bundespräsident. Mit Andreas Aebi und Alex Kuprecht stellt sie auch die National- und Ständeratspräsidenten. Noch nie hatte die Partei in Bern so viel Macht. Kommt dazu, dass sie auch die Gesundheitsdirektoren der drei grössten Deutschschweizer Kantone hat: Natalie Rickli (ZH), Pierre Alain Schnegg (BE) und Jean-Pierre Gallati (AG).
Diese Konzentration an Macht und Verantwortung hindert die SVP nicht daran, einen so harten Oppositionskurs zu fahren wie noch nie. «Wir leben aber auch in einem absoluten Ausnahmezustand in der Schweiz», sagt SVP-Generalsekretär Peter Keller. Nicht einmal im Zweiten Weltkrieg habe der Bundesrat so stark eingegriffen in das Leben der Menschen wie heute. Keller spricht von «Diktaten», «Manipulation» und «Willkür».
Von «Diktaten», weil der Bundesrat per Dekret bis in die Haushalte durchregiere, etwa bei der Frage, wer wen treffen dürfe. Von «Manipulation», weil die Berechnungsgrundlagen von R-Wert und Positivitätsrate so geändert worden seien, dass die strengen Massnahmen hätten beibehalten werden können. Und von «Willkür», weil man zwar im Bordell eine Dienstleistung kaufen dürfe, nicht aber ein Buch im Laden nebenan.
SVP-Nationalrat Thomas Matter, Mitglied des Parteileitungsausschusses, hat dazu ein Video produziert. Unter dem Titel «Freiheit statt Bevormundung» fordert es ein Ende des Lockdowns – und generierte auf Facebook und Youtube 500'000 Klicks.
Für die SVP ist zurzeit ein übergeordneter Kampf im Gang um das Wirtschaftssystem der Zukunft. Bleibt die Marktwirtschaft führend? Oder wird sie von einer Staatswirtschaft abgelöst?
Um «Freiheit oder Bevormundung» gehe es, sagt Matter. «Die Linke ist drauf und dran, die Marktwirtschaft an die Wand zu fahren, angeführt von Bundesrat Alain Berset und dem Bundesamt für Gesundheit.»
In der SVP stellt man sich auf eine längerfristige Phase harter Auseinandersetzungen ein. Was zurzeit geschehe, sei «nur ein Vorgeschmack» darauf, was nach der Coronakrise folge, sagt Matter. «Dann tritt wieder der Klimawandel ins Zentrum.»
Und damit erneut Notrecht, glaubt er. «Meine grosse Angst ist es, dass solche Massnahmen auch beim Klimawandel zum Thema werden.» Die Kantone Basel-Stadt, Waadt, Jura und Luzern hätten bereits den Klima-Notstand ausgerufen, genauso Städte wie Olten, Bern und Lugano.
Noch Ende 2020 war der Parteileitungsausschuss der SVP gespalten. Ein Lager forderte Öffnungen, das andere verwies auf überbelegte Spitalbetten. Im Januar verschmolzen die beiden Lager.
«Aufgrund der aktuellen Entwicklung sind wir einhellig der Meinung, dass das Diktat des Bundesrates beendet werden muss», sagt SVP-Nationalrat Franz Grüter, der Stabschef der Partei. Eine Position, die in deutlichem Kontrast liegt zur Realpolitik der eigenen Bundes- und Regierungsräte.
Am Freitag forderte die SVP-Delegation um Fraktionschef Thomas Aeschi und Vizepräsidentin Magdalena Martullo an einer Sitzung der Wirtschaftskommission WAK erneut mehr Mitsprache des Parlaments und zusätzliche Öffnungen. Das Parlament soll künftig reagieren können, wenn der Bundesrat zu Massnahmen greift, die ein Berufs- oder Betriebsverbot beinhalten. Zudem fordert die SVP, dass Gastrobetriebe, Freizeitbetriebe und Fitnessstudios am 22. März öffnen dürfen.
Sollte die Regierung nicht auf ihre Forderungen eingehen, will die SVP den Druck erhöhen. «Eigentlich sind wir bis jetzt mit unserem Widerstand sehr sanft geblieben», sagt Thomas Matter. «Wir müssten dann weiter gehen.» Was er damit meint, will er nicht sagen.
Politisch attackiert die SVP mit ihrem kompromisslosen Kurs zwar die Linke. Wahltaktisch hingegen nimmt sie den Freisinn ins Visier. Einerseits will sie die FDP-Bundesräte auf Mitte-Rechts-Kurs zwingen. Andererseits kann sie 2023 am ehesten der angeschlagenen FDP Wähler abjagen. Gleichzeitig will die SVP mit ihrem neuen Kurs neue Wähler gewinnen.
Damit folgt sie dem Rezept der Grünen bei den Wahlen 2019. Diese holten sich die zusätzlichen Wähler für ihren grossen Sieg bei ihrer Schwesterpartei SP. Parallel dazu konnten sie viele bisherige Nicht-Wähler mobilisieren.
Franz Grüter betont zwar, es sei «die ernsthafte Sorge gerade um den Gastronomiebereich», die den neuen Kurs der Partei vorgegeben habe. Und nicht die Wahlstrategie 2023. «Es kann aber natürlich sein», räumt er ein, «dass uns diese Positionierung bei den Wahlen hilft.»
Einmal hat die SVP bislang den Kraftakt mit dem Regierungssystem gewagt. Mit der Drohung «Christoph Blocher in den Bundesrat oder SVP in der Opposition» brachte sie ihren Vordenker in die Regierung. Vier Jahre später wurde er aber wieder abgewählt.
Hält die SVP an ihrem radikalen Oppositionskurs fest, könnte ihr 2023 ähnliches blühen. Im Herbst 2020 stellten SP und CVP/Mitte jedenfalls schon mal eine Drohkulisse auf: Entweder wird die SVP konkordant, oder sie fliegt – zumindest teilweise – aus der Regierung.