Startseite
Schweiz
Norbert Valley hat einen Strafbefehl kassiert, weil er einem abgewiesenen Asylbewerber Unterschlupf bot. Der evangelische Pfarrer wehrt sich gegen dieses Verdikt, wenn nötig bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Wenn er das Evangelium schon predige, dann müsse er auch danach leben. «Ich kann nicht anders», sagt Norbert Valley, Pfarrer der Freien Evangelischen Gemeinde Murten und des Neuenburger Jurabogens, als er unsere Zeitung in Murten empfängt. Der 63-Jährige hat seine solidarische Ader schon mehrfach unter Beweis gestellt. Zum Beispiel in den 1990er-Jahren, als er im jurassischen Pruntrut als Seelsorger wirkte. Damals beherbergte der vierfache Familienvater in seinem Haus permanent mehrere Personen mit sozialen Problemen, oft Drogenabhängige. «Meine Kinder entrissen ihnen manchmal die Zigaretten, warfen sie in den Abfall und mahnten die Süchtigen: ‹Rauchen schadet der Gesundheit.›» Die Anekdote bringt den schlanken Mann mit vollem grauem Bart zum Schmunzeln.
Weniger zum Lachen findet Valley den Strafbefehl, den die Staatsanwaltschaft Neuenburg im vergangenen August gegen ihn verhängt hat. Valley kassierte eine Geldstrafe von 1000 Franken plus 250 Franken Verfahrenskosten, weil er einem abgewiesenen Asylbewerber den Schlüssel der Kirche von Le Locle ausgehändigt hatte. Dort konnte der Mann aus Togo bei Bedarf nächtigen und sich verpflegen. Valley hat sich damit der «Förderung des rechtswidrigen Aufenthalts» schuldig gemacht. Dieser Passus im Ausländergesetz richtet sich eigentlich gegen Schlepper, trifft manchmal aber auch Privatpersonen, die illegal anwesenden Ausländern aus der Patsche helfen. Kritiker sprechen von einem «Solidaritätsdelikt».
Der Fall hat in der Westschweiz vor allem deshalb hohe Wellen geworfen, weil die Neuenburger Polizei Valley ausgerechnet während eines Sonntagsgottesdienstes im letzten Februar aufsuchte (siehe Kasten unten). Der Kern des Problems liegt für den Pfarrer jedoch im Ausländergesetz, «das die Nächstenliebe kriminalisiert». Er hat Beschwerde gegen die Strafe eingereicht, Ende Oktober findet eine Anhörung bei der Staatsanwältin statt. Falls der Strafbefehl nicht annulliert wird, ficht ihn Valley bei der nächsthöheren Instanz an. Notfalls wird er beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg für seine Unschuld kämpfen.
Valley ist überzeugt, dass sein Verhalten gestützt ist durch die Bundesverfassung, die Menschen in Not menschenwürdiges Dasein garantiert. Zudem sieht er seine Glaubens- und Gewissensfreiheit verletzt und damit Artikel 9 der Europäischen Konvention für Menschenrechte. «Der Mann aus Togo befand sich in einer Notlage. Ich hätte es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren können, ihm nicht zu helfen», so Valley.
Wie viele Personen pro Jahr für einen solidarischen Akt bestraft werden wie Valley, ist unbekannt. In der Vergangenheit wurden immer wieder ähnlich gelagerte Fälle publik. Vor knapp zwei Wochen sprach das Bezirksgericht Lausanne jedoch Flavie Bettex frei. Die 27-jährige Christin hatte eine Wohnung einem abgewiesenen Asylbewerber aus dem Iran untervermietet. Das Gericht kam zum Schluss, Bettex habe nicht wissen können, dass sie damit vielleicht das Gesetz verletze. Sie habe das Amt für Migration über den Mietvertrag informiert, und dieses habe sogar die Miete subventioniert.
Auf politischer Ebene laufen derweil Bemühungen, das «Solidaritätsdelikt» aus dem Gesetz zu verbannen. Nationalrätin Ada Marra (SP, VD) und ihr Zürcher Ratskollege Balthasar Glättli (Grüne) prüfen, in der Wintersession entsprechende Vorstösse einzureichen. Kritik kommt auch von bürgerlicher Seite. Der ehemalige Waadtländer FDP-Nationalrat Claude Ruey hat die Affäre Valley mitverfolgt. «Auf diese Weise bestraft man den guten Samariter», sagt er.
Früher kamen Personen, die Ausländern ohne Bleiberecht aus «achtenswerten Gründen» Unterschlupf gewährten, ohne Strafe davon. Mit dem revidierten Ausländergesetz, das am 1. Januar 2008 in Kraft trat, fiel diese Regelung weg. Initiiert wurde die Änderung unter der Ägide der früheren CVP-Justizministerin Ruth Metzler. «Die Grünen haben immer kritisiert, dass die neuen Bestimmungen auch humanitär motivierte Fluchthilfe unter Strafe stellen», sagt Glättli. Auch Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty International oder die Schweizerische Flüchtlingshilfe fordern die Politik auf, uneigennützige Hilfe zugunsten von Migranten nicht länger zu sanktionieren.
Michael Mutzner, Co-Sekretär der Schweizerischen Evangelischen Allianz in der Westschweiz, zeigt zwar Verständnis dafür, dass man Personen bestraft, die den Vollzug im Ausländerrecht behindern. «Aber was ist mit jenen, die bloss Menschen in Not unterstützen, ohne sich aktiv deren Wegweisung zu widersetzen?», fragt er. Mutzner hofft, dass Valleys Rekurs Klarheit schafft. Der Freispruch von Bettex nährt bei ihm die Hoffnung, dass man künftig straffrei Solidarität manifestieren kann.
Valley macht sich unterdessen grosse Sorgen um den Togolesen. Er besitzt immer noch die Schlüssel für die Kirche von Le Locle, doch Valley hat seit Monaten nichts mehr von ihm gehört. Er weiss auch nicht, wo sich der gut 30-jährige Mann befindet. «Als er mich das letzte Mal anrief, wirkte er verängstigt», sagt Valley. Der Togolese besuchte regelmässig die Kirche in Le Locle. Die evangelische Gemeinde finanzierte ihm die Autoprüfung, um seine berufliche Integration zu fördern. Doch im März 2016 wies das Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerde gegen seine Wegweisung ab. Wegen Depressionen wurde der Mann zeitweise hospitalisiert. Er schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, übernachtete mal hier, mal dort.
Im Sommer 2016 überreichte ihm Valley die Schlüssel der Kirche, damit er bei Bedarf dort übernachten konnte. Manchmal schenkte ihm Valley 10, 20 oder 30, insgesamt vielleicht 500 Franken. Wie oft der Togolese in der Kirche schlief, weiss Valley nicht. Als ihn die Polizei wegen seines illegalen Aufenthalts befragte, verriet er, dass ihm Valley Kirchenasyl gegeben hatte. «Er hat deswegen ein schlechtes Gewissen», sagt der Pfarrer. Auf eine Zwangsausschaffung verzichteten die Behörden, die Polizei liess ihn wieder laufen.
Norbert Valley fühlt sich überhaupt nicht schuldig. Das hat er der Staatsanwältin in einem Brief geschrieben. «Ich habe nichts als meine christliche Pflicht getan, einer Person in Not zu helfen.» Vor acht Jahren hat Valley erlebt, wie sich ein Mann aus Indien aus seiner Kirchgemeinde das Leben nahm, nachdem er sein Bleiberecht nach der Scheidung von seiner Frau verloren hatte. Der Inder wollte nicht ohne seinen kleinen Sohn leben. Vergeblich hatte Valley sich dafür eingesetzt, dem Mann doch noch eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. Noch einmal so viel Tragik, das wollte Valley im Fall des Togolesen nicht riskieren, auch deshalb kümmerte er sich um dessen Schicksal. «Will das Volk wirklich, dass Nächstenliebe unter Strafe steht?», fragt Valley. «Wenn das tatsächlich so wäre, hätte es sein soziales Gewissen verloren.»
Der Gottesdienst in der Freien Evangelischen Gemeinde in Le Locle ist noch im Gang, als ein Gläubiger zu Pfarrer Norbert Valley sagt: «Schau mal, die Polizei steht vor der Tür.» Valley verlässt den Saal. Die Beamten der Neuenburger Polizei erklären ihm, sie suchten einen Pfarrer mit Vornamen Norbert. «Das bin ich», sagt Valley – und folgt ihnen mit dem eigenen Auto zum Polizeiposten. Die Gottesdienstbesucher waren perplex.
Anfang September verteidigte der Neuenburger Sicherheitsdirektor Alain Ribaux (FDP) die Aktion vor dem Kantonsparlament. Die Polizisten hätten den Gottesdienst nicht gestört. Sie hätten Valley weder festgenommen noch abgeführt. Vielmehr habe sich der Pfarrer freiwillig und sofort zum Polizeiposten begeben, «obwohl er auch zu einem späteren Zeitpunkt hätte kommen können». Valley erhielt einen anderen Eindruck, verübelt dies den Polizisten jedoch nicht. «Es ist speziell, dass sie während der Messe erschienen sind, aber sie haben sich korrekt verhalten.»
Ende des letzten Jahres nahm die Polizei einen abgewiesenen togolesischen Asylbewerber wegen seines illegalen Aufenthalts fest. Dadurch fand die Polizei heraus, dass der Mann Anfang 2017 auf schneebedeckter Strasse einen Selbstunfall verursachte und Fahrerflucht beging. Zudem erzählte der Togolese, dass Valley ihm Unterschlupf bot. Die Polizei liess ihn wieder laufen. Im letzten Februar suchte die Polizei dann Pfarrer Valley auf, um Informationen über den Togolesen zu erhalten. Und im August verurteilte dann die Staatsanwaltschaft Neuenburg den Pfarrer per Strafbefehl zu einer Geldstrafe von 1000 Franken wegen Förderung des rechtswidrigen Aufenthalts. Dazu kamen 250 Franken für Verfahrenskosten.
Doch weshalb hat die Polizei Valley nicht telefonisch zur Befragung eingeladen? Regierungsrat Ribaux betonte, die Polizisten hätten nur Valleys Vornamen gekannt und gewusst, dass er Pfarrer sei. Mag sein. Es braucht indes keine besonderen detektivische Fähigkeiten, um den Nachnamen herauszufinden. Wer im Online-Telefonbuch «pasteur Norbert» eingibt, stösst sofort auf Valley. Ausserdem hat der Togolese der Polizei den Nachnamen des Pfarrers genannt. (kä)